Der Kompass fehlt

In einer Podiumsdiskussion mit dem katholischen Bischof Fürst ist über die Basis der Zivilcourage

Kann der Widerstand im Nationalsozialismus ein Beispiel sein für Zivilcourage in der Gegenwart? Über diese Frage diskutierte auf einem Geschichtstag der katholischen Kirche unter anderem deren Bischof Gebhard Fürst. Fazit der Teilnehmer: Die pluralistische Gesellschaft mit ihrer Informationsflut, ihrer Komplexität und Werteverlust macht es den Menschen nicht einfacher.

Von Dirk Baranek

Was bedeutet Zivilcourage heute? Über dieses Thema hat sich am Samstag die katholische Kirche in Form einer Podiumsdiskussion Gedanken macht. Neben dem Stuttgarter Bischof Gebhard Fürst nahmen daran Alfred Geisel vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie und Peter Steinbach von der Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten teil. Die Veranstaltung war Teil eines Geschichtstages aus Anlass des 60. Todestages des ehemaligen Bischofs Joannes Baptista Sproll, der sich 1938 geweigert hatte, an der Reichstagswahl und der damit verbundenen Abstimmung über den „Anschluss“ von Österreich an das Deutsche Reich teilzunehmen. Dieser Akt von Zivilcourage kostete ihn sein Amt, das er erst nach dem Krieg wieder einnehmen konnte.

Die Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass die Katastrophe des Nationalsozialismus unter anderem deshalb geschehen konnte, weil zu wenige Menschen den Mut aufbrachten, gegen die drohende Gefahr Widerstand zu leisten. Allerdings, so gab Peter Steinbach zu bedenken, sei es aber neben dem persönlichen Mut auch Voraussetzung für eine solchen Schritt, überhaupt zu erkennen, dass die Mehrheitsgesellschaft sich auf einem falschen Weg befinde. Man müsse sich dann in den Gegensatz zu seinen Mitmenschen setzen, was ohne grundlegendes Wertesystem, an dem die Geschehnisse der Zeit gemessen werden, nicht möglich sei.

Gerade dieses Wertesystem vermisste Gebhard Fürst in der aktuellen Gegenwart, wobei man aber auch sehen müsse, dass in der heutigen Zeit Zivilcourage angesichts der freiheitlichen Demokratie und der soweit vorhandenen sozialen Gerechtigkeit weit weniger notwendig sei. Außerdem brauche man angesichts der komplexen Zusammenhänge ein enormes Maß an Sachverstand, um überhaupt zu einem ausgewogenen Urteil kommen zu können. Zwar sei durch die Möglichkeiten des Internet der globale Zugriff auf eine riesige Menge an Informationen möglich geworden, aber diese seien nicht konsistent. Die Fülle trage eher zur Verwirrung bei. „Das ist das große Dilemma unserer Zeit,“ sagte Fürst. Viele Menschen fühlten sich daher überfordert und wollten sich zurücklehnen, um die angenehmen Seiten der „Wohlfühldemokratie“ zu genießen. Als Beispiel nannte Fürst sehr aufschlussreiche Vorträge auf der Deutschen Bischofskonferenz letzte Woche. Dort hätten Finanzexperten erläutert, dass es in der Wirtschaft durchaus das Gesetz der produktiven Zerstörung gebe. Nicht erhaltenswerte Unternehmen müssten danach untergehen, um die Zukunftsfähigkeit des Systems zu erhalten. „Aber soll sich jetzt ein Bischof vor die Opelaner stellen und ihnen mitteilen, ihre Werke müssten geschlossen werden, damit die Wirtschaft insgesamt weiterleben könne?“ Die fast entsetzte Reaktion des Publikum zeigte, dass er mit diesem Zweifel wohl im Einklang mit den Menschen steht.

Auch Peter Steinbach führte die aktuelle Krise in der Finanzwelt an, um den bedauernswerten Hang der Menschen zu illustrieren, Verantwortung abzugeben und sich bequem zurückzulehnen. „Wir leisten uns Experten, um nicht selbst Verantwortung zu übernehmen,“ sagte. Diese hätten allerdings versagt, was bei ihm allerdings so viel Mitleid auslöse, wie gegenüber einem Lottospieler, der immer nur verliere. Als weiteres Thema, bei dem der Informationsmangel die Urteilsfähgkeit der Menschen trübe, führte Gebhard Fürst die Einstellungen gegenüber Flüchtlingen und Asylanten an. Er habe oft erlebt, dass sich zum Beispiel in Fällen, in denen bei drohenden Abschiebungen das Kirchenasyl als letzte Maßnahme ergriffe werde, die wahren Motivationen der Flüchtlinge nicht zur Kenntnis genommen werden. „Wir werden dann als irgendwelche Gutmenschen bezeichnet, dabei wissen wir oft mehr über das wahre Schicksal dieser Menschen,“ sagte Fürst. Durch das weltweite Netz der Kirche sei er oft viel besser informiert über die tatsächlichen Umstände. Über ähnliche Erfahrungen berichtete Alfred Geisel. Er sei während seiner Tätigkeit als Abgeordneter im Landtag drei Mal in Burundi gewesen. Die dortigen Zustände seien nur dann im Fokus der Öffentlichkeit, wenn die in wirtschaftlichen Zusammenhängen diskutiert werden.

Alle Teilnehmer waren sich einig, dass es darauf ankomme, gerade jungen Menschen einen moralischen Kompass zu vermitteln, um selbst die Wirklichkeit beurteilen zu können. Hier seien die Familien, aber auch Schulen und Vereine gefragt. In diesem Zusammenhang nahm Gebhard Fürst zur aktuellen Diskussion in Berlin Stellung, wo die Wiedereinführung des Religionsunterrichts diskutiert wird. „Wir möchten den Religionsunterricht, um eine Werteorientierung in das demokratische Gemeinwesen einzuspeisen.“

(Artikel für die Stuttgarter Zeitung / Lokalteil)

Der Kompass fehlt

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