Ohne Kohle aber mit Würde

Verschiedene Kirchengemeinden und die Ambulante Hilfe bieten in den kommenden Monaten eine Gratismahlzeit an. Am Sonntag nahmen dies etwa 150 Menschen wahr, die sich in der Cannstatter Andreä-Gemeinde einfanden. Die Initiatoren wollen keine Abspeisung der Armen, sondern legen Wert auf einen würdigen Rahmen und auf den menschlichen Kontakt.

Das Gesicht der Armut wandelt sich. Diese zunächst oberflächliche Erkenntnis konnte man gestern bei der ersten Ausgabe der Aktion „Essen ohne Kohle“ machen, die in der Andreä-Kirchengemeinde in Bad Cannstatt stattfand. Etwa 150 Menschen nahmen das Angebot der Aktivisten der Ambulanten Hilfe und verschiedener Gemeinden an, gratis ein Mittagessen aus Erbsensuppe, Schweinebraten mit Spätzle und Vanillepudding zu erhalten. Nur einem kleinen Teil konnte man wirklich auf den ersten Blick ansehen, dass es am nötigsten fehlt.

Die Mehrheit machte eher den Eindruck, noch nicht durch das Raster des bürgerlichen Lebens gefallen zu sein, eine trügerische Einschätzung, wie Pfarrer Heinrich Schmid feststellt. „Die Zahl der armen Menschen, die noch in Besitz einer Wohnung sind oder in einer Einrichtung leben, nimmt ständig zu,“ sagte er. Die Armut spiele sich vermehrt im Verborgenen ab und erscheine dann nur, wenn es Familien nicht mehr gelingt, ihre Kinder eine Klassenfahrt in das Schullandheim zu bezahlen. Die Not habe breitere Schichten erfasst, die sich ihrer Situation schämten. Denn noch fehle es an gesellschaftlicher Akzeptanz, wenn Menschen durch Krankheit oder familiäre Probleme ins soziale Abseits gerieten. Diese Distanz will die Aktion bewusst aufheben, indem auch Gemeindemitglieder an dem Essen teilnehmen und das Gespräch mit den Menschen suchen. „Wir wollen hier keine Abspeisung machen, sondern einen würdigen Rahmen und ein gutes Mittagessen bieten,“ so Schmid.

Gekommen waren auch Iris und Wolfgang, die in der Nachbarschaft leben. Die 39-Jährige, die einmal als Arzthelferin gearbeitet hat, schlägt sich mit Hartz IV durch, wovon aber zum Leben letztendlich nur 200 Euro übrig bleiben. Deshalb ist sie froh, eine Stelle als Küchenhilfe beim Kulturwerk Ost bekommen zu haben. Dort darf sie bis zu 150 Euro hinzuverdienen. Wichtiger ist aber wieder das Gefühl zu bekommen, ein wertvoller Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. „Man fühlt sich so an den Rand gedrängt,“ sagte sie. Partner Wolfgang ist 45 Jahre alt und schwerbehindert. Chancen auf eine reguläre Arbeitsstelle hat er deshalb nicht, so seine Erfahrung. Das Geld, das die beiden zur Verfügung haben, reicht gerade so. Eng wird es oft am Monatsende oder bei Neuanschaffungen wie Möbeln oder Kleidern. Früher habe man wenigstens vom Sozialamt noch einen Bekleidungszuschuss bekommen, damit sei es jetzt vorbei, berichten die beiden.

Diesen Trend, dass ganz normale Menschen, die große Probleme aus der Bahn geworfen haben, oder die unter Altersamrut leiden, nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln klarkommen, beobachtet auch Renate Mausner, Mitarbeiterin beim Café 72, das von der Ambulanten Hilfe unterhalten wird. Frührentner, ehemalige DDR-Bürger, gescheiterte Selbstständige – solche Schicksale gehören vermehrt zur Klientel. „Diese Gesellschaft produziert Not,“ sagt Mausner und beklagt, dass man mit der Arbeit in der Einrichtung nur Notpflaster verteile, aber an die Ursachen nicht herankommt.

Spenden an Ambulante Hilfe, Konto 120 000, BLZ 60090800, Stichwort „Essen ohne Kohle“

[Artikel für den Lokalteil der Stuttgarter Zeitung]

Ohne Kohle aber mit Würde

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