Auf der 100. Ausgabe der Ansichtskartenmesse haben sich in der Liederhalle Sammler und Liebhaber getroffen
Seit 1979 findet in Stuttgart drei- bis viermal im Jahr die Ansichtskartenmesse statt. Inzwischen ist daraus die wichtigste ihrer Art bundesweit geworden. Nicht zu Unrecht, denn die Karten mit den Bildmotiven bergen durchaus kleine kulturhistorische Schätze.
Das Mädchen mit der weißen Haube und dem roten Blumenstrauß schaut etwas verträumt aus der Grafik im Jugendstil. Hinter ihr ist eine fiktive Parkanlage abgebildet, deren beetgesäumte Wege im Horizont enden. Geworben wird vom Verlag Reklamekunst Stuttgart für die Große Frühjahrs Gartenbau-Ausstellung, die, so kann man lesen, vom 3. bis 12. Mai 1913 in der Gewerbehalle vom Württembergischen Gartenbauverein durchgeführt wurde, „Unter dem Schutz Sr. Maj. d. Königs“. Verschickt wurde die mit winzigem Sütterlin eng beschriebene Postkarte vier Tage nach dem Ende der Ausstellung nach Frankfurt-Echersheim „mit lieben Grüßen an Elisabeth“.
Solche auf den ersten Blick unscheinbaren Perlen deutscher Alltagsgeschichte kann man auf der Ansichtskartenmesse in der Liederhalle aufstöbern, die am Samstag zum 100. Mal stattfand. Etwa 800 Besucher kamen, um an der Ständen der über 80 Händler aus dem In- und Ausland ihre Sammlungen durch neue Stücke zu ergänzen, jeder natürlich in seinem persönlichen Spezialgebiet. Bei dessen Auswahl lassen sich
durchaus geschlechtsspezifische Merkmale beobachten, wie Fritz Keller, langjähriger Organisator der Messe, feststellt. „Männer sammeln topographisch, Frauen meist motivorientiert,“ sagt er. Während sich also der maskuline Teil der Welt, die bei diesem Hobby im übrigen die große Mehrzahl der Interessierten stellt, eher auf eine bestimmte Region oder Stadt ausrichtet, von der man möglichst alle Ansichtskarten besitzen möchte, sucht die weibliche Kundschaft gerne nach Tiermotiven oder Glückwunschkarten zu den christlichen Feiertagen.
Mit einer Mischung aus privatem und wissenschaftlichem Interesse ist Joachim Wollasch aus Freiburg angereist. Der emeritierte Geschichtsprofessor von der Universität Münster interessiert sich für Stücke aus dem Zweiten Weltkrieg. Angefangen mit dem Sammeln hat er vor zehn Jahren und besitzt inzwischen 3.000 Exemplare. Feldpostkarten, Städtemotive aber auch Propagandakarten sind für ihn generell wichtige historische Bild-Zeugnisse von hohem Wert. Deshalb gehen auch viele Sammlungen nach dem Tod des Eigentümers an Museen und historische Archive. Faszinierend findet Wollasch auch die Widersprüche zwischen der heilen Welt der Fotomotive und den ernüchternden Mitteilungen der Kriegsteilnehmer an ihre Familien. „Die Zensur hat nicht sehr gut funktioniert. Sogar Orte sind verbotenerweise vermerkt,“ sagt er verschmitzt. Viele erschütternde Nachrichten seien zu finden.
Es drängt sich der Eindruck auf, die Ansichtskarte sei mit dem Krieg verschwägert, dabei stieg nur der Kommunikationsbedarf. Im Krieg 1870/71 hatte die kurz zuvor eingeführte, so genannte Correspondenzkarte ihren Durchbruch. Mit dem Entstehen des bürgerlichen Tourismus setzte sich der Siegeszug fort. Bereits 1905 wurden allein im Deutschen Reich über 500 Millionen Karten verschickt, eine Zahl, die nur noch von den Massen übertroffen wurde, die die Volksheere aus den Schützengräben des ersten Weltkriegs in die Heimat schickten. Es war der wenn auch traurige Höhepunkt der Ansichtskarte. Der ganz Rest bis heute ist im Grunde Abklatsch, lange Agonie, abebbende Nachwelle. Oder wie Fritz Keller sagt: „Die Karte verflachte zum simplen Reisegruß.“ Etwa 400 Millionen gehen heute jährlich noch durch die Post, in ganz Europa.
Die große Masse der historischen Poststücke wird auf der Messe zu Preisen zwischen fünf und zwanzig Euro gehandelt. In den Ramschkisten finden allerdings Anfänger schon wesentlich billiger Material für den Grundstock einer Sammlung. Daran gehen natürlich die Spezialisten Nase rümpfend vorbei. Die sitzen blätternd vor den wohlsortierten Schachteln der Händler, unter denen die Stuttgarter Messe als ziemlich wichtig gilt. Auch Ron de Bijl aus dem niederländischen Wassenaar macht hier „guten Business“ und bietet seine Ware ein- bis zweimal im Jahr an. Sein teuerstes Stück ist eine bestens erhaltene Serie italienischer Karten mit Propaganda-Karikaturen aus dem ersten Weltkrieg. Mindestens 700 Euro will de Bijl dafür haben. Das Mädchen von der Gartenbauaustellung hat nur zehn gekostet und sieht sowieso viel schöner aus.
[Artikel für den Lokalteil der Stuttgarter Zeitung]