@1914Tweets: Der Beginn einer Jahrhundertkatastrophe erzählt in Tweets

Gestern um 14 Uhr haben wir ein Projekt gestartet: Die Geschichte des Jahres 1914 auf Twitter, zu finden unter @1914Tweets. Die Idee entstand zum Jahreswechsel. Ein lang gehegter Plan steht nicht dahinter. Einfach mal anfangen. Mal sehen was passiert. Wie das so ist…

Die Idee ist nicht neu: historische Ereignisse so auf Twitter erzählen, als hätte es zu der erzählten Zeit Twitter schon gegeben, als würde sich die Geschichte wie in einem aktuellen Stream aus Tweets vor den Augen der Zeitgenossen entwickeln. Eben so wie sich unsere Gegenwart auf Twitter vollzieht: in kurzen prägnanten Nachrichten. Geschichte in140 Zeichen, mit Bildern, Tondokumenten und Videos.

Inzwischen sind 30 Stunden vergangen und ich bin ehrlich gesagt völlig baff und auch ein bisschen aufgeregt. Über 750 Follower hat der Account bereits. Stündlich werden es mehr. Das ist erstaunlich und unglaublich großartig. Ich hatte mit derartigem überhaupt nicht gerechnet. Das Interesse, mehr Details über dieses Jahr zu erfahren, ist offenbar vorhanden.

Durch diese Resonanz steigt der Druck. Mir wird fast etwas schwindelig, denn die Verantwortung muss man sehr ernst nehmen. Alles muss gründlich geprüft werden. Nicht immer sind exakte, verlässliche Informationen über das Material vorhanden oder lassen sich auf einen konkreten Tag runterbrechen. Was mich nach zwei Tagen intensiver Recherche allerdings überrascht: das Material an sich ist vorhanden, in Hülle und Fülle. Es gibt endlose Datenbanken weltweit, mit Dokumenten, mit Bildern, mit Filmen.

Die Vorarbeit vieler WissenschaftlerInnen und ArchivarInnen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Die werden wir zu würdigen wissen, selbst wenn nicht alles so präsentiert wird, dass es für unsere Zwecke einfach verwertbar ist. Es handelt sich eben um Quellensammlungen, manchmal unübersichtlich und durcheinander, in Webformaten, die antiquiert wirken. Aber es gibt auch wirklich tolle Angebote. Dieser Riesenberg wird nun ausgewertet und aufbereitet. Das wird Arbeit machen. Aber in Bibliotheken und Staatsarchive werden wir wohl nicht steigen müssen: das Netz scheint vollends auszureichen.

Umso härter wird die Auswahl der Nachrichten werden. Welche Geschichte dieses Jahres werden wir erzählen? Ist es die richtige? Werden wir Dinge schlicht vergessen, überbewerten, sträflich vernachlässigen? Ist die Form angesichts der so viel Leid, Unrecht und Apokalypse produzierenden Ereignisse angemessen? Antworten auf diese Fragen werden wir erst im Nachhinein finden.

Was wir nicht wollen: Es wird keine simple Aufzählung all der Schlachten geben, die sich schon in den ersten Monaten dieses Krieges in ganz Europa, im Westen, im Osten und im Süden und im übrigen fast überall auf der Welt entwickelten. Was sagt die Nachricht über den Durchbruch einer Frontlinie über das, was sie mit den Menschen macht, die sich in diesem Wahnsinn wiederfinden? Rein gar nichts. Wir sind nicht das Nachrichtenbüro der Obersten Heeresleitung.

Wir wollen von den Menschen erzählen. Von den Tätern, aber vor allem von den Opfern. Von den ganz normalen Menschen, die nicht am den Hebeln der Macht gesessen haben, noch nicht einmal durch freie Wahlen. Wir werden diese Menschen sprechen lassen. Von ihren Motiven, Hoffnungen, Ängsten und Träumen. Zeugnisse gibt es genug. Wir werden sie finden.

Sicher, einige Erwartungen werden wir vielleicht enttäuschen müssen. Zum Beispiel wird man ein abschließendes Urteil zu Kriegsschuldfrage, einer in der Wissenschaft seit Jahrzehnten kontrovers diskutierten Frage, von uns sicher nicht erhalten. Dazu ist Twitter nicht das richtige Format. Das Bild das wir in Einzelteilen liefern, wird sich jeder selbst zusammensetzen müssen.

Können wir das eigentlich? Ich behaupte: Ja. Hier sitzen zwei Geschichtswissenschaftler, geschult in Quellenkritik und vollgestopft mit historischem Wissen. Wir glauben zu wissen, was wir tun. Aber es bleibt ein Abenteuer, eine Reise ins Unbekannte. Wir wollen es wagen, weil uns der Sinn danach steht, mehr Menschen für Geschichte zu interessieren, die sonst vielleicht davor zurückschrecken, sich intensiver damit zu beschäftigen. Drückt uns die Daumen.

Warum erzählen wir diese Geschichte? Dieses Projekt ist den Millionen Opfern gewidmet, die hineingeschleudert wurden in diesen zivilisatorischen Bruch mit seiner unendlichen Bestialität, die verheizt wurden in einer nie gekannten Kriegsmaschinerie großindustriellem Ausmaßes, die verreckt sind an Hunger und Krankheiten, die vertrieben und gemeuchelt wurden aus Rassen- und Völkerhass oder aus machtpolitischem Größenwahn.

Im besten Falle wird dieses Projekt eine Mahnung an die Lebenden sein, denn mit den Konsequenzen dieser Jahrhundertkatastrophe leben wir bis heute.

Wir werden nicht vergessen!

P.S: Was erwartet ihr von einem derartigen Projekt? Habt ihr Tipps und Vorschläge?

@1914Tweets: Der Beginn einer Jahrhundertkatastrophe erzählt in Tweets

4 Gedanken zu „@1914Tweets: Der Beginn einer Jahrhundertkatastrophe erzählt in Tweets

  1. Diese Idee ist gut und fast schon tiefsinnig: wollte ich ihr folgen, müsste ich meinem (durch viele Erzählungen, auch solche aus dem Großen Krieg) vertrauten Großvater in den Kopf steigen, um – wenigstens fiktiv – an seinem Bewusstsein und an seiner Sozialisation in und durch eine(r) Magdeburger Tabakverarbeiterfamilie teilhaben zu können. Er war im ersten Weltkrieg zweimal an der Westfront, in der Gegend um Ypern, also den dort kämpfenden Engländern gegenüber, verschüttet worden, wofür er dann das Verwundetenabzeichen in Schwarz bekam.

    Was könnte er hierüber mit seinem Handy nach Hause getwittert haben?

    1) Ihr lieben, keine Aufregung, bin verschüttet, also eingeschlossen, aber nicht verletzt. Die Kameraden buddeln schon, uns zu befreien. Oder:

    2) Hurrah, gerettet nach drei Stunden harter Wühlarbeit: Kameraden von aussen, und wir eingeschlossenen Drei hier eifrig auch mit unseren kurzen Feldspaten von innen, endlich befreit. Welch Freude, wieder die Sonne zu sehen.

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