Der Umbau der Stadtbahnlinie 15 war eine logistische Herausforderung – auch für die Anwohner der Wanderbaustelle.
Nach zwei Jahren Bauzeit weiß man als Anwohner fast alles über den modernen Gleisbau urbaner Verkehrssysteme. Zwischen Olgaeck und Eugensplatz gab es neben Belästigungen und Pannen allerdings auch einen kurzen Sommer der Anarchie.
Krapeng! Das rastlose Hämmern des Hydraulikmeißels, der am frühen Morgen mit brachialer Gewalt den Asphalt in Brocken verwandelt, endet mit einem lauten Knall. Chance auf ein ruhiges Frühstück? Aber warum ist das Licht ausgegangen? Die Espressomaschine ist auch ausgefallen, zischend und traurig tröpfelnd. Der Blick aus dem Fenster belegt: totaler Stromausfall auf der gesamten Alexanderstraße. Die Mitarbeiter aus den gegenüber liegenden Büros stehen auf den Raucherbalkonen und amüsieren sich über die unfreiwillige Pause. Man informiert sich mit Zuruf. Unten stehen die Bauarbeiter auf dem perforierten Asphalt zwischen den Stadtbahngleisen und beratschlagen die Lage. Später stellt sich heraus: Das Hauptkabel für den ganzen Häuserblock wurde durchtrennt. Alles halb so schlimm, eine Stunde später ist das Lebenselixir moderner Arbeitswelten zurück. Die Computer laufen wieder.
Der Vorfall ist symptomatisch für die Bauarbeiten im Verlauf des Umbaus der Stadtbahnlinie 15, bei der in zwölf Monaten direkt vor der Haustür die alten, im Straßenbelag versenkten Schienen herausgerissen und durch neue ersetzt wurden. Pannen gab es immer wieder, aber im Prinzip lief alles glimpflich ab. Außerdem stärken widrige Umstände in den meisten Fällen das Gefühl der Nachbarschaft oder besser: man merkt, das man eine hat.
Wunderbarerweise war die vor der Tür auf und ab wandernde Baustelle sogar ein Hort der Ruhe. Normalerweise brausen mehrere tausend Automobile unterm Fenster vorbei, aber wegen immer wieder verordneter Totalsperrungen zwischen Olgaeck und Eugensplatz ist zeitweise Schluss damit. Friedlich wie nie liegt dann die Straßenschlucht, wird zum anarchischen Bummelboulevard zwischen Schlamm, Schotter und Schienen. Manchmal braucht es zwar einen mutigen Sprung über ein klaffendes Bauloch, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, aber das gefährliche Blech ist außer Reichweite. Nachteil: die Einkäufe per PKW vor der Haustür abzuladen, wird zum logistischen Abenteuer.
Unwirkliche Stille in der City also, wäre da nicht das Tääh-rääh im Fünf-Minuten-Takt. Das kommt aus dem Signalhorn des Sicherungspostens, dem Ältesten im grellorangen Trupp der Schienenarbeiter. Zwei lange Töne in verschiedenen Lagen warnen vor dem Herannahen der Stadtbahn auf dem verbliebenen Nachbargleis, auf dem der Fahrbetrieb die gesamte Zeit aufrechterhalten wird. Das Rottenwarnsignal 2 wird Teil des Alltags und der gutmütige Mann mit dem Vollbart zum geduldigen Ansprechpartner in allen Lebenslagen. Er weiß Bescheid über die aktuelle Lage und zukünftige Termine. Von ihm kann man zum Beispiel erfahren, dass die Gleise wieder im Asphalt versenkt werden. Kein Schotterbett also vor der Tür, sondern jetzt sechs statt vorher vier Rinnen in der Straße. Denn die alte Spurbreite gibt es ja weiter, die Strambe stirbt nicht, sondern geht nur aufs Altenteil.
Optisch der Renner ist der wandernde Hochofen. Den bedienen zwei Mann und fügen damit die frisch verlegten, zehn Meter langen Schienenpaare zusammen, die vorher tagelang in großen Stapeln den Bürgersteig blockierten. Zischend und bruzzelnd ergießt sich das flüssige Eisen beim Abstich in die fünf Zentimeter breiten Fugen. Faszinierend, dass bei modernen Verkehrsträgern Techniken der Eisenzeit verwendet werden. Das Staunen endet bei diesem Arbeitsgang spätestens, wenn der Mann mit der Flex kommt, um überschüssiges Eisen zu entfernen. Gar nicht zu reden von der Schienenschleifmaschine, dem Hassobjekt an sich mit infernalischem Getöse. Hinterlässt aber blankes, silbrig funkelndes Metall. Erinnert irgendwie an frisch geprägtes Geld.
Inzwischen ist der Alltag wieder eingekehrt, die Autos sind längst zurück. Die Spannung in der Nachbarschaft steigt. Immer wieder gern diskutiertes Thema und Quelle diverser Mutmaßungen: Wird die „Neue“ leiser sein oder lauter? Wie lange wird es dauern, sich an das andere Geräusch zu gewöhnen? Werden wir die alte Bahn vermissen? Etwas Wehmut ist dabei, aber im Grunde sind alle froh, Anschluss an das 21.Jahrhundert zu haben.
[Der Artikel ist am 8. Dezember 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]
Hier noch zwei private Fotos