Das Viertel rund um den Hans-im-Glück-Brunnen war das Thema des zweiten Stadtspaziergangs
Der zweite Stadtspaziergang, den die Stiftung Geißstraße und die Stuttgarter Zeitung gemeinsam anbieten, führte am Samstag durch das Viertel rund um den Hans-im-Glück-Brunnen. Der langjährige städtische Denkmalpfleger Helmut Feeß erläuterte bei dem Rundgang die Geschichte des Viertels.
Die meisten der vielen Vergnügungssüchtigen, die durch die mit gastronomischen Angeboten jeglicher Art lockenden Straßen rund um den Hans-im-Glück-Brunnen streifen, ahnen wahrscheinlich nicht, dass sie sich in der ersten Flächensanierung der Stadt befinden. Hier ist kein Stein, keine Fensterlade, kein Erker älter als hundert Jahre, auch wenn es manchmal anders aussieht, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Block zwischen Eberhardt-, Nadler- und Steinstraße komplett neu bebaut worden. Die Geschichte dieses recht beschaulichen, verkehrsbefreiten Gebäudeensembles erzählte am Samstag Helmut Feeß den etwa 20 Teilnehmern am zweiten Stadtspaziergang, den die Stiftung Geißstraße zusammen mit der Stuttgarter Zeitung organisierte.
Die Führung beginnt mit einer aus zwei Gründen atemberaubenden Station, der Besteigung des der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglichen Turms des Graf-Eberhard-Baus. Feeß kennt sich hier mehr als gut aus, denn als städtischer Denkmalpfleger hat er in dem mächtigen Haus bis 2005 seinen Dienstsitz gehabt. Das erste Mal stockt der Atem, weil die Gruppe zu Fuß das Turmzimmer erklimmen muss, am Wochenende fährt der Fahrstuhl nicht. Die über 200 Stufen lassen so manchen Teilnehmer aus der Puste kommen. Das zweite Mal stockt der Atem, weil oben angekommen die Aussicht auf die verwinkelten Dächer des Viertels recht spektakulär ist. Wer aber geglaubt hat, hier direkt bis ins Mittelalter zu schauen, der irrt gewaltig.
Feeß erzählt die Geschichte von Eduard von Pfeiffer einem hoch angesehen wie wohlhabendem Bürger dieser Stadt. Pfeiffer hatte soziale Neigungen und widmete sich mit Bauprojekten seines Vereins zum Wohl der arbeitenden Klassen den widrigen Lebens- und Wohlverhältnisse der einfachen Leute in der engen Stadt. Mehrere Siedlungsprojekte hat er um die Jahrundertwende initiert und kaufte unter anderem die Grundstücke im Geißviertel. 1901 wurde die vorhandene niedrige Bebauung komplett abgerissen und neu bebaut – heller, luftiger und romantisch. 1909 war alles fertig und nur der Straßenverlauf erinnerte noch an das alte Viertel. „Alles rückwärtsgewandte Architektur. Es sollte heimelig werden,“ sagt Helmut Feeß und meint den Stilmix aus Renaissance, Baukunst süddeutscher Handelshäuser und Neoklassizismus. Das Viertel kam allerdings an, die Mischung aus Geschäften und Wohnungen funktionierte.
Zurück auf dem Boden der Geißstraße geht die Führung um die Ecke vor den Graf-Eberhard-Bau. Der war bis 1977 voll mit Büchern, denn der Barsortimenter Koch, Neff und Oettinger hatte hier seinen Stammsitz. Jetzt wird hinter den massiven Mauern die Stadt der Zukunft entworfen, denn seit über 20 Jahren gehört der Bau der Stadt und beherbergt das Stadtplanungsamt.
Weiter geht es die Eberhardstraße hoch bis zur Ecke Steinstraße. Feeß erzählt nun die Geschichte des Tagblatturms und die des Kaufhauses Schocken gegenüber. Letzteres gibt es seit 1960 nicht mehr, dort steht jetzt die Stein gewordene architektonische Fragwürdigkeit mit Namen Galeria Kaufhof, ein Umstand, der den Denkmalpfleger immer noch auf die Palme bringt. „Wir stehen hier vor einer der größten Bausünden der Stadt,“ sagt er. Das Schocken war ein Experiment des neuen Bauens, materialisierte den Bauhaustraum aus Glas, Metall und klaren Linien. Abgerissen wurde er, unter Protest der gesamten Architektenschaft der Stadt, weil die Straße davor drei Meter zu schmal war, um als Querspange innerhalb des Cityrings zu funktionieren. Die Folgen dieser Fehlentscheidung werden vor allem in der Steinstraße offensichtlich, bei dem der Blick hoch auf die Eierkartonfassade geht, die der Kaufhauskonzern bundesweit in die Städte geklotzt hat. „Das wird niemals in den Denkmalschutz kommen,“ sagt Feeß später fast verächtlich. Der Anblick läuft jedem halbwegs geschultem ästhetischem Empfinden zuwider.
Zuletzt biegt die Gruppe in die Nadlerstraße ein. Hier Feeß weist auf die städtebaulichen Narben hin, die die Bombenangriffe vor über 60 Jahren bis heute hinterlassen haben. „Dort an der Ecke sieht man noch die Notbedachung, die nach dem Krieg draufgesetzt wurde,“ sagt er. Auch sonst gibt es inzwischen an einigen Gebäuden erheblichen Sanierungsbedarf, aber weil die Stadt keinen Euro für die finanzielle Unterstützung mehr bereitstelle, werde sich hier auch weiter nichts tun, so Feeß. Die Führung endet am original erhaltenen Hans-im-Glück-Brunnen mit dem Gefühl, dass der Schutz der historischen Bausubstanz in Stuttgart keine Aufgabe ist, der man von Seiten der Stadtoberen besondere Priorität einräumt.
[Der Artikel ist am 24. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]