Stuttgarter Blogger: Globaler Stammtisch in 60 Millisekunden

Weblogs, diese kurz „Blogs“ genannten persönlichen Internet-Tagebücher, machen Furore. Auch in der Region Stuttgart sind einige Netzenthusiasten als aktive Blogger am Werk. LIFT-Autor Dirk Baranek hat sich der hiesigen Blogosphäre umgesehen und war auf einem Blogger-Treffen in Vaihingen an der Enz.

Durch die leergefegten Gassen der abendlichen Vaihinger Altstadt wehen dörfliche Gerüche. Auf dem Marktplatz liegt eine Sandfläche verlassen da – inzwischen macht wohl jedes Kaff auf Paris Plage – ein paar Jugendliche produzieren sich lautstark bei Cola, Eis und Bier. Hier soll das Epizentrum der Stuttgarter Bloggerszene sein, dem zurzeit größtem Internet-Hype?

Zwischen 60 bis 250 Tausend Weblogs – je nach Zählweise – soll es in deutscher Sprache inzwischen geben und auch in der Region Stuttgart wächst die Zahl der Internet-Tagbücher jeden Tag. Bloggen ist einfach. Bloggen kann jeder, der am Computer ein Formular ausfüllen kann. Blogs sind persönlich. Blogs können deshalb sehr spannend sein und zu oft ziemlich langweilig – „…gebloggt wird in 90% der Fälle sowieso immer das selbe„, schreibt der Stuttgarter Kommunkationsdesigner Andreas Mayer in seinem – Stuttgarts erstem? – Blog www.anarchiv.com/p/weblog).

Oliver Gassner hat mit der Masse kein Problem: „99,9 % aller Bücher, die erscheinen, lese ich ja auch nicht.“ Gassner hat zum monatlichen Bloggertreffen „BlogMeetSKa“ im Gasthaus Engel geladen und ist seit Jahren im Netz aktiv, als Pädagoge, Journalist, Berater und bezahlter Profi-Blogger. Inzwischen entdecken immer mehr Freiberufler und Unternehmen das Marketing-Potenzial der Blogosphäre, wie sich die internationale Blog-Gemeinde selbst bezeichnet. Zum Teil beruht dieser Effekt auf dem Google-Prinzip: Wer am häufigsten durch andere Webangebote verlinkt ist, der rutscht bei der Trefferanzeige nach oben. Der Reiz des Bloggens liegt also an der starken Vernetzung: Die Tatsache, dass ein neuer Beitrag veröffentlicht wurde, wird automatisch an die gesamte Bloggerwelt gemeldet. Andere Blogger lesen mit, haben das Blog abonniert, kommentieren Beiträge, verlinken und analysieren: Wie Wellen gehen News und Meinungen durch das Internet. Die Konsequenz ist starker Verkehr auf den Ausgangsseiten, die den ersten Stein ins Wasser geworfen haben und nebenbei sich selbst, ihre Produkte und Dienstleistungen bekannt machen.

Letzeres versucht Thomas Gigold (   www.gigold.de) aus Ludwigsburg mit seinen Projekten. Angefangen hat er mit einem klassischem Tagebuchblog zu Zeiten seelisch bedrückender Arbeitslosigkeit. „Bloggen hat sich bei mir dann verselbstständigt„, gibt er unumwunden zu. Mit Gadgetmania, ein News-Blog zu seltsamen Geräten, und Space42, einem Portal für anspruchsvolle Netzprojekte, versucht er sich jetzt als Medienunternehmer. Auch Jan „UMTS“ Theofel (   www.theofel.de) aus Feuerbach sieht bloggen als Chance, seine Kompetenzen schnell und billig zu kommunizieren. Er betreibt einen IT-Technik-Blog und hat gute Erfahrungen damit gemacht. „Ich habe bereits vier Monate, nachdem ich mit dem Blog begonnen habe, die ersten Anfragen von Kunden erhalten, die zu dem Thema einen Dienstleister suchten.

Für Frank „dev“ Scholz ist das Ganze ein rein privates Vergnügen www.netzflocken.de). Er ist seit 1992 im Netz, kommt aus der IT-Branche und betont die kommunikative Kraft an dem ganzen System: „Die Blogger-Welt ist ein globaler Stammtisch in 60 Millisekunden.“ Allerdings bezieht sich das nicht unbedingt auf politische Diskussionen. „Das Feld des politischen Blogs wird in Deutschland bisher nicht bestellt – anders als in den USA. Die Leute hierzulande scheuen offensichtlich, sich öffentlich klar zu positionieren.

Angesichts der Masse von Angeboten kann keiner einen thematischen Schwerpunkt feststellen – für jedes Nischenthema gibt es inzwischen einen Blog. Allerdings ist man sich einig, dass Blogs den Charme des realen, nicht immer perfekten Lebens haben müssen: authentisch, persönlich, ehrlich. „Viele haben Angst, dass die gesamte Blogosphäre über sie herfällt, wenn sich herausstellt, dass sie da irgendeinen Mist geschrieben haben„, meint Gassner, auch deshalb begeben sich manche in die Anonymität. Scholz pflichtet bei: „Anonyme Blogs sind für einige Leute ein Ventil, um z.B. über ihren Boss herzuziehen, und dann mag das durchaus Sinn machen.“ Aber Achtung: Wie der Fall der Mannheimer CDU-Funktionäre zeigt, die unter verschiedenen Pseudonymen üble Beleidigungen im Forum des Mannheimer Morgens veröffentlicht haben, ist es mit der Anonymität ganz schnell vorbei.

 Gassner ist trotzdem eine Feststellung wichtig: „Das Internet verbindet eben Menschen und nicht Maschinen.“ Einige dieser Spezies haben ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis und breiten ihre emotionalen Hochs und Tiefs vor der ganzen Welt aus. Folgerichtig gibt es jetzt einen US-Dienst (www.bloginspace.com), auf dem man sein Blog anmelden kann und der neue Einträge ins All sendet. Aus dem mittelalterlichen Gasthof an der Enz in die unendlichen Weiten des Raums: Ich blogge, also bin ich!

[Der Artikel entstand im Juli 2005 und wurde veröffentlicht in LIFT 09/2005]

Stuttgarter Blogger: Globaler Stammtisch in 60 Millisekunden

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