Mit Kunst über sich hinauswachsen

Der durch eine Krankheit an den Rollstuhl gefesselte Künstler Friedrich Zirm stellt in einem Drogeriemarkt aus

Kunst im Schaufenster eines Drogeriemarktes ist keine Alltäglichkeit. Das Umfeld einer profanen Warenästhetik reizt aber Friedrich Zirm ganz besonders. Der an spastischer Lähmung erkrankte Künstler präsentierte gestern ein neues Projekt im dm-Markt im Kronprinzbau. Mit dabei: dm-Chef Götz W. Werner.

Das Thema des Stuttgarter Künstlers Friedrich Zirm ist die Reduktion auf das Wesentliche. Sich selbst bezeichnet Zirm als Freigrafiker und die Arbeit mit Kohlestift und Papier ist Kern seines Schaffens. Die abstrakten, schwarz-weißen Kompostionen aus Strichen und Linien zu deuten, überlässt Zirm ganz dem Betrachter. „Die Botschaft ist die Frage“ steht dazu auf seiner Internetseite. Diese Schlichtheit und gelichzeitige Radikalität des Ausdrucks hängt sicherlich auch mit dem „Zustand“ zusammen, wie Zirm selbst die Tatsache nennt, durch die Folgen einer spastischen Lähmung fast vollständig an den Rollstuhl gefesselt und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Zeichnen muss er mit dem Mund, eine Technik, die er allerdings virtuos beherrscht, wie man in einem Video sehen kann, das parallel zu dem im Schaufenster des dm-Marktes im Kronprinzbau ausgestellten Werk gezeigt wird. „Mein Leben in Tüten“ ist der Titel der Arbeit, die gestern Nachmittag in Anwesenheit von von Götz W. Werner, Inhaber der Drogeriekette dm, eröffnet wurde.

Zu sehen ist ein Schaufenster mit 44 Plastiktaschen von dm, drapiert auf einer massiven Gerüstkonstruktion. Die Tüten materialisieren die verflossenen Lebensjahre des Künstlers. Jede enthält daher 52 Blätter aus Büttenpapier mit jeweils sieben Strichen. Zwei Jahre hat Zirm für diese Arbeit gebraucht und seine ganze Kraft investiert. Inzwischen fällt ihm selbst das Sprechen sehr schwer, weshalb er seine Rede verlesen lassen musste. Darin bekennt sich der Künstler zu diesem profanen Standort für sein Werk, denn die Kunst müsse dorthin, wo der Alltag der Menschen stattfinde. Mit der Arbeit möchte er darauf aufmerksam machen, dass wir alle auf die Leistungen anderer Menschen angewiesen sind. „Keine Idee, keine Entwicklung wird real ohne die Mitwirkung aller.“ Seine eigene Existenz sei bedingt durch die Krankheit die „reinste Form des Konsums von Dienstleistungen“ und mit diesem Werk wolle er nun der Gesellschaft etwas davon zurückgeben. 

Diese Haltung imponiert Götz W. Werner enorm. In der Öffentlichkeit bekannt wurde Werner, der ein Unternehmen mit fast 2.000 Filialen und 25.000 Mitarbeitern dirigiert, durch seinen Vorschlag von einem allgemeinen, staatlich finanzierten Grundeinkommen für jeden Bürger. Für Werner ist Zirm ein Vorbild dafür, dass es jedem Menschen gelingen kann, seine Schicksalsaufgabe zu meistern und dabei über sich hinauszuwachsen. „Jeder Mensch ist ein ergebnisoffenes Wesen, das seine scheinbare Determinierung überwinden kann,“ sagte er. Die Kunst sei dabei eine besonders geeignete Form, mit der sich das Menschsein zur Wahrnehmung bringen könne. Sein Unternehmen unterstütze daher kulturelle Aktionen und übernehme damit gesellschaftliche Verantwortung.

[Artikel für die Lokalteil der Stuttgarter Zeitung]

Mit Kunst über sich hinauswachsen

Lernen vom Leben am Eisloch

Eine Familienführung bringt Kindern die extremen Lebensbedingungen der Inuit spielerisch nahe

Das Volk der Inuit lebt auf der Insel Grönland im ewigen Eis. Wie sehr dieses Leben unter extremen Bedingungen die Kultur dieser Jäger und Sammler geprägt hat, konnten Kinder spielerisch bei einer Führung im Lindenmuseum erfahren inklusive arktischer Spiele.

Die Inuit haben es auch nicht gerade leicht. Eine typische Jagdszene des Volkes von der Insel Grönland sieht nämlich so aus: Bei eisiger Kälte stundenlang regungslos aber konzentriert vor einem handgroßen Eisloch warten, bis eine Robbe zum Luftholen auftaucht. Dann blitzschnell harpunieren. Um das Ausmaß der Notwenigkeit zu begreifen, das Ziel auf keinen Fall zu verfehlen, da sonst der Hunger nagt, muss man mehr wissen über die Lebensbedingungen der Menschen am Nordpol. 

Das war das Ziel einer auf Kinder ausgerichteten Führung, die am Samstag in der aktuell laufenden Sonderausstellung im Lindenmuseum unter dem Titel „Arctic Games: Spiele der Inuit“ stattfand. Dietmar Neitzke, Ethnologe und Mitarbeiter der museumspädagogischen Abteilung, versuchte im ersten Teil den drei bis zwölf Jahre alten Besuchern dieses Leben im ewigen Eis nahezubringen. Ackerbau kennen die Bewohner der größten Insel der Welt nicht. Eskimos mögen sie nicht mehr heißen, haben aber der Welt Dinge vermacht, die als Worte in die ganze Welt gewandert sind. Der Anorak, der Parka, das Kajak – diese Kulturgegenstände findet man heute überall. Die Originale sehen etwas anders aus und die Kinder standen denn auch fast ergriffen vor der aus Tierdarm angefertigten Regenbekleidung, absolut wasserdicht natürlich. Plastisch und in einfacher Sprache wurde ein Leben unter extremen Bedingungen erläutert, die nur mit Erfindungsreichtum und Anpassung gemeistert werden können. So überstehen die Inuit einen großen Teil der langen, düsteren, lebensfeindlichen Winter mit einer einfachen Strategie: Sie schlafen viel. Die älteren Kinder fanden das alles sehr spannend, während die kleineren Geschwister das Herumtragen der Klappsessel und das Draufklettern schnell viel interessanter fanden.

Aber das störte niemandem, weil sich der Lernerfolg trotzdem sofort einstellte. Am Ende des ersten, erklärenden Teils der Führung konnte der Unterschied zwischen Originalkultur und Import von den Grundschülern glasklar erkannt werden. „Aber die Zigarette da, die ist von uns,“ stellte ein Mädchen vernehmlich fest und wies auf eines der ausgestellten Fotos von Markus Bühler-Rasom, auf dem ein Inuit rauchend in die Kamera lächelte. Auch das Motiv, auf dem ein kleines Mädchen gebannt und kauend Fernsehen schaut, beeindruckte wegen des besonderen Naschwerks: getrockneter Eisbär. 

Für die meisten der kleinen Besucher war es dann der Informationen genug und die folgenden Geschicklichkeits- und Bewegungsspiele hochwillkommen. Es wurden Schnurrer ausgeteilt, die von verdrehten Fäden zwischen den Händen zum Zischen gebracht wurden. Das klappte nicht bei jedem, faszinierte aber auch die Erwachsenen, die man nach den Kindern belustigt schnurren sah. Die Kleinen war inzwischen schon beim nächstem Programmpunkt, einem speziellen Weitsprung, bei dem man kniend hochschnellen und sich vorarbeiten muss. „Hier werden Fähigkeiten geübt wie Schnelligkeit, Geschicklichkeit, aber auch Geduld,“ sagte Dietmar Neitzke, um den pädagogischen Wert kindlichen Spiels zu betonen. Es sei eben alles abgestellt auf die lebensnotwendigen Kulturtechniken dieser Jäger und Sammler. Die Kinder gestern konnten so etwas mitnehmen für ihren Alltag, vielleicht einfach begreifen, dass anderswo auf der Welt die Eisbären nicht niedlich sind, sondern hochbegehrte weil sehr seltene Beute. Der sieben Jahre alten Sina Hauer aus Geradstetten hat auf jeden Fall „alles am besten gefallen,“ wie sie sagte. Vorher wusste sie nichts von den Eskimos und will jetzt auf gar keinen Fall mehr in die Nähe von Eisbären. Vor denen hat sie „oft ein bisschen Angst.“ Dafür freut sie sich schon auf den Urlaub an der Nordsee, denn dort kann man auch Robben angucken. Wenigstens muss man dort nicht stundenlang vor einem Eisloch warten, um eine zu sehen.

[Artikel für die Stuttgarter Zeitung]

Lernen vom Leben am Eisloch

Zeugnisse europäischer Barbarei

Im Rathaus erinnert eine Ausstellung an die Opfer von Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert

Über Jahrzehnte war das Schicksal der Vertriebenen ein Tabu der deutschen Gesellschaft. Erst mit der Ausstellung „Erzwungene Wege“ wurde deren Geschichte in eine europäische Perspektive eingebettet und damit politisch entschärft. Das persönliche Leid steht nun im Vordergrund.

Im Rathaus ist seit gestern eine Ausstellung zu sehen, die Geschichte erzählt und selbst geschrieben hat. Denn sie hat ein Thema auf die Agenda der Tagespolitik gesetzt, von dem schon viele glaubten, es sei nach dem Ende der europäischen Teilung in die Tiefenschichten des kollektiven Gedächtnisses gerutscht, werde dort für immer bleiben und sei höchstens noch politische Munition für unverbesserliche Revisionisten. Dann kamen im Sommer 2006 über 60.000 Besucher in die Ausstellung „Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ und die Perspektive änderte sich schlagartig. Denn erstmals das Schicksal von Ostpreußen, Schlesiern, Sudetendeutschen und Donauschwaben, dass diese zwischen 1944 und 1948 erleiden mussten, Teil einer Geschichte der europäischen Barbarei, der Konsequenz aus Nationalismus, Rassenwahn und Klassenkampf.

In der Wanderausstellung, die auf 68 Tafeln beginnend bei den türkischen Verbrechen an Armeniern und Griechen, über die Verfolgungen kommunistischer wie faschistischer Diktaturen bis hin zu den sogenannten „ethnischen Säuberungen“ in den jugoslawischen Bürgerkriegen diese Opfergeschichte aufzeigt, ist das Schicksal der deutschen Vertriebenen ein Teil dieser dunklen Zeit, als Europa totalitären Ideologien verfiel. „Es wird deutlich, wie barbarisch mit Völkern umgegangen wurde,“ sagte Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), der StZ. Mit ihrer Beharrlichkeit, dieses Thema als Teil einer Identität der Deutschen aktuell zu halten, hat sich Steinbach in der Vergangenheit mehr Feinde als Freunde gemacht. Vor allem bei den östlichen Nachbarn war sie zeitweise zur Persona non Grata geworden. Denn mit der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ setzte sich die CDU-Politkerin dem Verdacht aus, eine Revision der Geschichte zu voranzutreiben, bei der die Deutschen von Tätern zu Opfern werden sollten. Die Intention, mit einer Dauerausstellung einen Ort der Erinnerung an das Schicksal der 12 bis 14 Millionen vertriebenen Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg zu schaffen, geriet in die Mühlen der internationalen Politik und drohte zermahlen zu werden. Erst die aktuelle Ausstellung entschärfte den Konflikt, wurde doch deutlich, dass es Steinbach offenbar um mehr ging. „Vertreibung darf kein Mittel der Politik sein,“ sagt sie denn auch. Die Deutschen seien Opfer ungerechter Gewalt geworden und diese Tatsache dürfe nicht mit dem Hinweis auf eine Kollektivschuld gerechtfertigt werden. Im europäischen Kontext seien die Vertriebenen solidarisch mit allen Opfern ähnlicher Gewaltausbrüche. An diese Solidarität erinnerte auch Bürgermeister Schairer in seinem Grußwort zur Eröffnung. Er erhoffe sich durch die neue Auseinanderstzung mit der eigenen Vergangenheit eine neue Empathie gegenüber Flüchtlingen, woher auch sie kommen, wie man es zuletzt bei den Opfern der Jugoslawienkriege erlebt habe.

Dass die Landeshauptstadt einen besonderen Bezug zum Thema hat, machten alle Redner klar. Besonders engagiert Heribert Rech, der Innenminister des Landes. Er erinnerte an die Charta der Heimatvertriebenen, in der im August 1950 auf dem zerbombten Schlossplatz auf Rache und Vergeltung verzichtet und der Hoffnung auf ein geeintes Europa Ausdruck gegeben wurde. „Das war eine bemerkenswerte Vision und ist fast 60 Jahre später nahezu Wirklichkeit geworden“, sagte Rech. Deshalb gehe es jetzt nicht um die Relativierung deutscher Verbrechen oder einen Revisionismus der Schuldfrage. Es gehe schlicht und einfach um die Anerkennung des Leides vieler Millionen Menschen, die im Europa des vorigen Jahrhunderts – diesem Jahrhundert der Vertriebenen und Gefangenen, wie Heinrich Böll einmal feststellte – Opfer politischer Gewalt wurden. Diesen Menschen und ihren Nachkommen einen Ort zu geben, an dem die persönliche Geschichte Teil des kollektiven Gedächtnisses werden kann, ist der Sinn, des von der Bundesregierung beschlossenen „Sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“ in Berlin. Ohne die gestern eröffnete Ausstellung mit ihrer europäischen Perspektive wäre es dazu nicht gekommen.

Die Ausstellung ist geöffnet bis 30. Juni. Eintritt ist frei.

[Artikel für den Lokalteil der Stuttgarter Zeitung]

Zeugnisse europäischer Barbarei

Klettpassage wieder fit für die nächsten Jahrzehnte

Neues Beleuchtungskonzept betont die Hauptlaufrichtungen und ermöglicht bessere Orientierung. Außerdem kann man jetzt die Arbeiten junger Künstler begutachten.

Die Sanierung der Klettpassage ist abgeschlossen. Mit der Enthüllung von vier neuen Kunstwürfeln wurde gestern die zehnmonatige Bauzeit beendet. Sprinkleranlage, Deckenverkleidung und Beleuchtung wurden erneuert. Eigentümer SSB sieht sich damit für die Zukunft gerüstet. 

200.000 Passanten durchqueren in der Weihnachtszeit jeden Tag die Klettpassage und haben seit gestern einen weiteren guten Grund, den größten Verkehrsknotenpunkt der Stadt zu benutzen. Nach einer Bauphase von zehn Monaten wurde mit einer kleinen Feier die Sanierung offiziell für abgeschlossen erklärt. Außerdem wurden vier Plexiglaswürfel enthüllt, in denen Studenten der Kunstakademie zukünftig ihre Arbeiten der vorbeihastenden Öffentlichkeit präsentieren.

Begonnen hatte alles 2006 mit der Notwendigkeit, die Sprinkleranlage in der 1976 errichteten Verkehrsanlage zu erneuern, weil die Feuerversicherung wegen gefährlicher Mängel protestierte. Da die Sprinkler auch in die Geschäfte reichen, mussten alle 28 Ladenmieter zeitweise ausziehen. In einzelnen Bauabschnitten wurden dann die 9.000 Quadratmeter Deckenverkleidung abgenommen und das Brandschutzsystem ersetzt. Es wurde eine neue Deckenverkleidung angebracht und das Beleuchtungskonzept überarbeitet. Die wichtigsten Laufrichtungen werden nun besser betont. Unmittelbar vor den Geschäften ist die Beleuchtung etwas zurückgenommen, damit deren Schaufenster besser zur Geltung kommen. An den Ausgängen dienen markant grün leuchtende Lichtkästen der besseren Orientierung. „Da wo es grün leuchtet, geht es raus,“ sagt Ulrich Deinhardt, der bei der SSB, dem Eigentümer der Passage, für die Infrastruktur zuständig ist. Zuletzt wurde das Leitsystem mit den Hinweiszeichen auf die vielen Verkehrsmittel, die hier zusammenlaufen, komplett erneuert und grafisch überarbeitet. Insgesamt haben die Maßnahmen 3,2 Millionen Euro gekostet. „Die Passage ist nun fit für die nächsten Jahrzehnte,“ sagte Deinhardt.

Dazu sollen auch vier große Plexiglaswürfel beitragen, die im vorderen Teil in den Treppenaufgängen zu den Stadtbahnsteigen hängen. Darin werden Studenten der Kunstakademie im halbjährlichen Wechsel ihre Arbeiten, zumeist Skulpturen, den Passanten präsentieren. Die Initiative zu diesem „vollkommen ungewöhnlichen Projekt“ wie Lothar Hünnekens, Rektor der Kunstakademie, sagte, ging von den Mietern der Passage aus. Bisher bestimmen Hektik und Eile diesen Ort und das soll nun zumindest ansatzweise aufgehoben werden. Die Geschäftsleute versprechen sich dadurch mehr Aufenthaltsqualität, wollen das aber nicht nur als den Konsum anheizende Maßnahme verstanden wissen, so Manfred Wieser von der Mietervereinigung. Die von einem Kuratorium ausgewählte Kunst wird sich nicht auf Dekoration beschränken, sondern will durchaus provozieren. Ein gewünschter Effekt, um die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Das Risiko scheut man nicht. „Es wird nicht nur positive Stimmen geben, aber das werden wir aushalten,“ sagte Wiese.

Apropos Risiko: Die Klett-Passage ist kein Kriminalitätschwerpunkt, wie Andreas Feß, zuständiger Revierleiter der Polizei, am Rande der gestrigen Eröffnung klarstellte. In Anbetracht des hohen Publikumsverkehrs sei die Anzahl und die Art der Delikte absolut im Rahmen für solche Bauwerke. Zwar hielten sich vor allem in der kalten Jahreszeit soziale Randgruppen dort auf, aber deren zuweilen aggressives Auftreten spiele sich fast immer innerhalb der Gruppen selbst ab. „Als Bürger kann man sich auch Nachts in der Klett-Passage absolut sicher fühlen,“ sagte Feß, der dies der permanenten Präsenz der Ordnungshüter durch die Tag und Nacht geöffnete Wache zuschrieb, der einzigen in Stuttgart.

[Der Artikel ist am 1. Dezember 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Klettpassage wieder fit für die nächsten Jahrzehnte

Berliner gewinnt 3. Stuttgarter Chanson- und Liedwettbewerb

Beim Gala-Finale im Le Meridien überreichte Katja Ebstein den bronzenen Troubadour an einen überraschten Sieger

Der Berliner Musiker kw. Timm ist Sieger des diesjährigen Stuttgarter Chanson- und Liedwettbewerbs. Die zum dritten Mal ausgetragene Konkurrenz hatte am Samstag Abend im Ballsaal des Hotel Le Meridien mit der Überreichung des bronzenen Troubadour ihr festliches Finale.

Hinterher war kw. Timm völlig baff. Das sei etwas ganz Besonders, meinte der Berliner Musiker und Kabarettist, der mit seinem Sieg beim zum dritten Mal ausgetragenen Chansons- und Liedwettbewerb offensichtlich nicht gerechnet hatte. Sein humorig-poetischer Auftritt hatte die hochkarätige, mit sechs Profis aus dem Stuttgarter Kulturleben besetzte Jury am meisten überzeugt. Wenn auch nur knapp, wie die Vorsitzende Katja Ebstein bei der Übergabe der Troubadour getauften Bronzestele sagte.

Der Gewinner setzte sich am Samstag Abend beim Gala-Finale im Ballsaal des Hotels Le Meridien gegen vier Konkurrenten durch, die an zwei Vorabenden aus den diesjährigen 16 Teilnehmern gefiltert worden waren. Allesamt professionelle Musiker, die den Durchbruch in die vorderen Plätze der Hitparaden allerdings noch vor sich haben. Verdient haben den alle, so die Meinung von Stephan Sulke, der als Pate des Wettbewerbs beratend auftritt, seiner Rolle aber nur geringen Wert beimisst. Er sei nur eine Randfigur, meinte der in Frankreich lebende Liedermacher. Die Veranstaltung, die vom Direktor des Le Meridien Bernd Schäfer-Surén ins Leben gerufen wurde, hält er für einen wertvollen Beitrag, um die aus 100 Bewerbern im Vorfeld ausgewählten Teilnehmer einem größeren Publikum bekannt zu machen. „Verdient haben das alle. Die Qualität steigt jedes Jahr exponentiell,“ sagte er. Das sah Katja Ebstein ähnlich, konstatierte die Sängerin doch „gute Stimmen und viel Substanz“. Das Besondere des Stuttgarter Wettbewerbs, einer von zweien, die es bundesweit in diesem Genre gibt, ist für die Berlinerin der Umstand, dass nur Künstler mit „handgemachten“ deutschen Texten und Musik teilnehmen dürfen.

Das Publikum bekam daher in den etwa 15-minütigen Auftritten durchweg bis dato Unbekanntes geboten. Aber man zeigte sich als „offenes Chansonpublikum“, wie der Sieger feststellte, auch wenn der eine oder andere Wortwitz an der niedrigen Peinlichkeitsschwelle der Gäste scheiterte. Damit hatte vor allem Michael Gaedt zu kämpfen, der als Moderator durch den „traumhaften Abend“ führte, wie er sagte. Mit seinem neongrün-rotbraun karierten Anzug und der bekannt schnoddrig-direkten Art sorgte er für so manch pikiert-verdrehte Augen. Bei Kürbis-Ingwer-Süppchen, Rinderfilet mit Trüffeljus, Thymiansorbet mit Orangenragout und einem Schluck kräftigen Bordeaux ließ sich darüber aber leicht hinwegsehen.

Dabei war es gerade dieses „Amalgam von Highsociety-Ambiente und einer frechen Generation junger Musiker“ die den Reiz des Abends ausmache, wie Stephan Sulke feststellte. Für ihn ist die Idee und die Tatkraft des Meridien-Direktors sogar eine „Heldentat“, denn anders als in Frankreich tue der Staat hierzulande fast nichts, um die Entwicklung deutschsprachiger Musik zu fördern. Schäfer-Surén seinerseits wünschte sich denn auch, dass der Wettbewerb, den er als Forum für Musik sieht, die bisher ein Mauerblümchendasein fristet, noch besser in die Kultur der Stadt verzahnt wird. Neben Berlin möchte er Stuttgart, das seiner Meinung nach „nicht arm und trotzdem sexy“ ist, zur Chansonstadt machen. Erste Ansätze sind sichtbar. Der Sieger wird im Renitenz-Theater auftreten und einige der Finalisten beim nächsten Sommerfest. Auch Stephan Sulke, der mit einem gewohnt emotionalem Soloauftritt einen glanzvollen Schlussakkord zu dem gelungenen Abend beisteuerte, und Katja Ebstein werden demnächst in eigener Sache wieder in der Stadt weilen. Während Ebstein mit einem satirisch-musikalischem Weihnachtsprogramm wiederum im Ballsaal des „Luxusschuppens“ auftritt, wie Sulke die 5-Sterne-Herberge an der Willy-Brandt-Straße nannte, wird der Meister des deutschsprachigen Chansons im Renitenz-Theater auftreten. Es scheint sich ein Netzwerk zu entwickeln, zu dem der Stuttgarter Chanson- und Liedwettbewerb den Anstoß gegeben hat.

[Der Artikel ist am 22. Oktober 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Berliner gewinnt 3. Stuttgarter Chanson- und Liedwettbewerb