Zeugnisse europäischer Barbarei

Im Rathaus erinnert eine Ausstellung an die Opfer von Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert

Über Jahrzehnte war das Schicksal der Vertriebenen ein Tabu der deutschen Gesellschaft. Erst mit der Ausstellung „Erzwungene Wege“ wurde deren Geschichte in eine europäische Perspektive eingebettet und damit politisch entschärft. Das persönliche Leid steht nun im Vordergrund.

Im Rathaus ist seit gestern eine Ausstellung zu sehen, die Geschichte erzählt und selbst geschrieben hat. Denn sie hat ein Thema auf die Agenda der Tagespolitik gesetzt, von dem schon viele glaubten, es sei nach dem Ende der europäischen Teilung in die Tiefenschichten des kollektiven Gedächtnisses gerutscht, werde dort für immer bleiben und sei höchstens noch politische Munition für unverbesserliche Revisionisten. Dann kamen im Sommer 2006 über 60.000 Besucher in die Ausstellung „Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ und die Perspektive änderte sich schlagartig. Denn erstmals das Schicksal von Ostpreußen, Schlesiern, Sudetendeutschen und Donauschwaben, dass diese zwischen 1944 und 1948 erleiden mussten, Teil einer Geschichte der europäischen Barbarei, der Konsequenz aus Nationalismus, Rassenwahn und Klassenkampf.

In der Wanderausstellung, die auf 68 Tafeln beginnend bei den türkischen Verbrechen an Armeniern und Griechen, über die Verfolgungen kommunistischer wie faschistischer Diktaturen bis hin zu den sogenannten „ethnischen Säuberungen“ in den jugoslawischen Bürgerkriegen diese Opfergeschichte aufzeigt, ist das Schicksal der deutschen Vertriebenen ein Teil dieser dunklen Zeit, als Europa totalitären Ideologien verfiel. „Es wird deutlich, wie barbarisch mit Völkern umgegangen wurde,“ sagte Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), der StZ. Mit ihrer Beharrlichkeit, dieses Thema als Teil einer Identität der Deutschen aktuell zu halten, hat sich Steinbach in der Vergangenheit mehr Feinde als Freunde gemacht. Vor allem bei den östlichen Nachbarn war sie zeitweise zur Persona non Grata geworden. Denn mit der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ setzte sich die CDU-Politkerin dem Verdacht aus, eine Revision der Geschichte zu voranzutreiben, bei der die Deutschen von Tätern zu Opfern werden sollten. Die Intention, mit einer Dauerausstellung einen Ort der Erinnerung an das Schicksal der 12 bis 14 Millionen vertriebenen Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg zu schaffen, geriet in die Mühlen der internationalen Politik und drohte zermahlen zu werden. Erst die aktuelle Ausstellung entschärfte den Konflikt, wurde doch deutlich, dass es Steinbach offenbar um mehr ging. „Vertreibung darf kein Mittel der Politik sein,“ sagt sie denn auch. Die Deutschen seien Opfer ungerechter Gewalt geworden und diese Tatsache dürfe nicht mit dem Hinweis auf eine Kollektivschuld gerechtfertigt werden. Im europäischen Kontext seien die Vertriebenen solidarisch mit allen Opfern ähnlicher Gewaltausbrüche. An diese Solidarität erinnerte auch Bürgermeister Schairer in seinem Grußwort zur Eröffnung. Er erhoffe sich durch die neue Auseinanderstzung mit der eigenen Vergangenheit eine neue Empathie gegenüber Flüchtlingen, woher auch sie kommen, wie man es zuletzt bei den Opfern der Jugoslawienkriege erlebt habe.

Dass die Landeshauptstadt einen besonderen Bezug zum Thema hat, machten alle Redner klar. Besonders engagiert Heribert Rech, der Innenminister des Landes. Er erinnerte an die Charta der Heimatvertriebenen, in der im August 1950 auf dem zerbombten Schlossplatz auf Rache und Vergeltung verzichtet und der Hoffnung auf ein geeintes Europa Ausdruck gegeben wurde. „Das war eine bemerkenswerte Vision und ist fast 60 Jahre später nahezu Wirklichkeit geworden“, sagte Rech. Deshalb gehe es jetzt nicht um die Relativierung deutscher Verbrechen oder einen Revisionismus der Schuldfrage. Es gehe schlicht und einfach um die Anerkennung des Leides vieler Millionen Menschen, die im Europa des vorigen Jahrhunderts – diesem Jahrhundert der Vertriebenen und Gefangenen, wie Heinrich Böll einmal feststellte – Opfer politischer Gewalt wurden. Diesen Menschen und ihren Nachkommen einen Ort zu geben, an dem die persönliche Geschichte Teil des kollektiven Gedächtnisses werden kann, ist der Sinn, des von der Bundesregierung beschlossenen „Sichtbaren Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“ in Berlin. Ohne die gestern eröffnete Ausstellung mit ihrer europäischen Perspektive wäre es dazu nicht gekommen.

Die Ausstellung ist geöffnet bis 30. Juni. Eintritt ist frei.

[Artikel für den Lokalteil der Stuttgarter Zeitung]

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