Gegen den Trend der schrumpfenden Stadt

Bei einem Expertenhearing im Rathaus stand die Situation und Zukunft des Stuttgarter Wohnunsmarktes auf der Agenda.

Wie wollen in Zukunft wie viele Menschen leben und was bedeutet das für die Entwicklung des Wohnungsmarktes? Auf diese Frage versuchten gestern Experten Antworten zu geben, um daraus Eckpunkte für eine zukunftsorientierte Stadtplanung zu entwickeln.

Das Stadtplanungsamt Stuttgart führte gestern Abend im Rahmen des Entwicklungsprogramms „urbanWohnen“ ein Expertenhearing durch, um die aktuelle Situation des hiesige Wohnungsmarktes zu analysieren. Aber vor allem sollte ein wenig in die Zukunft geschaut werden, um mit einer neuen Strategie wandelnden Erfordernissen gerecht zu werden. Rund 200 Interessierte waren dem Aufruf des Stadtplanungsamtes gefolgt, Vertreter von Baugesellschaften, Stadtplaner, Architekten, Hausverwalter und Wohnungswirtschaftler, um sich von den vortragenden Wissenschaftlern über die derzeitige Situation informieren zu lassen und Lösungsansätze zu diskutieren. Handeln tut Not, denn die gesellschaftlichen Veränderungen werden erhebliche Auswirkungen auf die Stadtgesellschaft haben.

Bezüglich der aktuellen Lage waren sich alle Experten einig, dass die Landeshauptstadt eine hohe Lebensqualität bietet. Aber das ist nicht genug, um die weitreichenden Veränderungen der Zukunft zu meistern. Diese Veränderungen werden durch die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohner bestimmt und deren Lebensverhältnisse werden bis 2020, so weit geht die perspektivische Planung, ziemlich andere sein als heute. Vor allem der demografische Wandel, also die zunehmende Alterung der Gesellschaft, stand bei allen Vorträgen als der die Entwicklung am stärksten beeinflussende Faktor im Vordergrund. Immer mehr ältere Menschen, die sich grüne, ruhige Innenstadtquartiere wünschen, weniger junge Familien, die im Umland bauen wollen, so die grobe Richtung, die auch von Professor Hanspeter Gondring, Leiter des Studiengangs Immobilienwirtschaft an der Berufsakademie Stuttgart, skizziert wurde. Er sieht vor allem in der Revitalisierung der Altbaubestände eine Chance und hält nicht viel von Neubauten. Diese werden aber trotz gleichbleibender Bevölkerungszahl notwendig sein, wie Detlef Kron, Leiter des Stadtplanungsamtes ausführte.

Allerdings ist ein gutes Stück Hoffnung dabei, denn die städtischen Planer wollen es schaffen, dass die Bevölkerungszahl bis 2020 nicht um etwa 15.000 Einwohner schrumpft, wie einige Prognosen vorhersagen. Da die Menschen aber in Zukunft anders leben wollen als heute, vor allem größer, schöner, ruhiger und doch zentral, muss die Zahl der Wohnungen um 20.000 wachsen, um für die stagnierende Bevölkerungszahl ein attraktives Angebot vorzuhalten. Das entspricht auch der Erwartung hiesiger Experten, wie sich aus einer Umfrage ergibt, deren erst Ergebnisse gestern vorab präsentiert wurden. Der Anstieg von Mieten und Preisen, ein erhöhter Bedarf beim Wohnflächenkonsum, ein starkes Wachstum in gewissen Marktnischen, zum Beispiel beim barrierefreien Wohnen für Senioren, und erhöhte eine Nachfrage nach Innenstadtlagen werden von den hiesigen Immobilienfachleuten als die Trends der Zukunft bezeichnet.

Das Häuschen im Grünen hat dabei für bestimmte soziale Milieus deutlich an Attraktivität verloren, so die Einschätzung von Rotraut Weeber vom Institut für Stadtplanung und Sozialplanung (Stuttgart-Berlin). „Die Miniaturausgabe der großbürgerlichen Villa ist für die selbstbewusster werdende Mitte der Gesellschaft kein erstrebenswertes Ziel mehr,“ sagt Weeber. Sie prognostiziert eine sich stärker differenzierende Gesellschaft, für die der Neubau im Einheitslook einfach nicht attraktiv genug ist. Eine Möglichkeit, den weiter vorhandenen Wunsch nach Eigentum, und zwar möglichst individuellem, nachzukommen, könnte eine breit angelegte Entwicklungsstrategie für die vorhandenen Stadtquartiere sein. Irene Weeber fordert ein verbessertes Qualitätsmanagement, um sozial problematische Quartiere mit höherwertigen Wohnungen und Infrastrukturen zu versorgen.

Denn nach wie vor ist für die Planer die soziale Entmischung, die im Moment stattfindet, ein Horrorszenario, aus dem viele Probleme erwachsen. Clever gestaltete Low-Budget-Wohnungen neben individuellen Stadthäusern, die sich solvente Baugemeinschaften errichten, das ist in etwa die Vorstellung, mit der die Stadtplaner zukünftigen Entwicklungen Raum schaffen wollen. Ob allerdings die Zukunft so eintrifft, wie von den Experten vorhergesagt, bleibt naturgemäß unklar. „Die Alten von morgen werden andere sein, als die Alten von heute,“ sagt Irene Weeber. Welche Art von Wohnungen die Generation 50plus bevorzugen wird, die 2020 etwa die Hälfte der Einwohner ausmacht, weiß im Moment niemand im Saal.

[Der Artikel ist am 18. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Gegen den Trend der schrumpfenden Stadt

Rauchende Köpfe beim Intelligenztest

Am Wochenende stellten sich 40 Stuttgarter freiwillig einem Intelligenztest im Rahmen des „Nationalen IQ-Testtag 2007“, der vom Verein Mensa veranstaltet wird. Unser Autor unterzog sich dem Test.

Deutschlandweit haben am Wochenende bei mindestens 1.000 Mitbürgern außerplanmäßig die Köpfe geraucht. Sie wollten im Rahmen des Nationalen IQ-Testtags des Hochbegabtenvereins Mensa wissen, wie schlau sie wirklich sind. Darüber sagt angeblich der Intelligenzquotienten (IQ) etwas aus, der keine starre Skala ist, sondern auf der Intelligenzverteilung in der Gesamtbevölkerung basiert. Etwas umstritten ist das Ganze, aber das interessiert die zehn Teilnehmer, die sich am Samstag Nachmittag in einem schlichten Seminarraum der VHS am Rotebühlplatz einfinden, herzlich wenig. Vier Damen und sechs Herren wollen wissen, ob sie wenigstens bezüglich der Hirnkompetenz zu den oberen Zehntausend gehören, bildlich gesprochen. Denn eines von 7.000 Mensa-Mitgliedern kann man nur ab IQ 130 aufwärts werden, was etwa zwei Prozent der Bevölkerung entsprechen soll.

Daran interessiert ist auch Sven Mörk, der im Alter von 31 Jahren schon promovierter Mediziner ist. „Ich will es einfach mal genau wissen, so für die Schublade,“ sagt er lächelnd. Im Internet habe er schon Tests gemacht, aber die hatten immer unterschiedliche Ergebnisse. Der Mensa-Test gelte als seriös und deshalb hat er die 49 Euro investiert. Bevor es losgeht, prüft Irene Kade, Testleiterin bei der Stuttgarter Sektion von Mensa, die amtlichen Identitätsnachweise, damit keiner mogeln kann. Ist noch nicht vorgekommen, beteuert sie. Dann geht es los, die Aufgaben liegen als Heft vor mir und rechts daneben der anzukreuzende Antwortbogen. Acht verschiedene Aufgabengruppen müssen in jeweils drei bis sieben Minuten erledigt werden.

Am Anfang ist alles noch recht leicht, das logische Ergänzen von Sätzen liegt mir offensichtlich. Ganz fies erscheint mir die Aufgabe, sich Eigenschaften von 15 Waren einzuprägen und dann 20 Minuten später Fragen nach diesen Kombinationen zu beantworten. Jedes Produkt hat drei Eigenschaften: Name, Preis und Herkunftsland. Vereinfacht wird die Gedächtnisaufgabe durch den Umstand, das es fünf Warengruppen gibt, innerhalb derer Herkunftsland und Preise identisch sind. Trotzdem: mir das einzuprägen, schaffe ich sieben Minuten niemals! Vielleicht hilft die Strategie, sich willkürliche Reihen nicht durch lineares Pauken zu merken, sondern durch eine Art Bildergeschichte. Das funktioniert ganz gut, aber wohin mit diesen Produktnamen, reinste Fantasiewörter wie Salarini oder Mobisal? Egal, womöglich schaffe ich die Fragen in der Mehrzahl gleich trotzdem. Das soll sich als schwerer Irrtum herausstellen, an dieser Aufgabe bin ich bestimmt gnadenlos gescheitert.

Besser gehen weitere Aufgaben, die mit sprachlicher Bedeutung zu tun haben. Obs am Beruf liegt?. „Durch Übung kann man höchstens fünf IQ-Punkte gutmachen,“ hatte allerdings Irene Kade vorher gesagt. Wird mich also nicht rausreißen, das tägliche Wörterschieben. Schwierigkeiten machen auch die gedrehten Würfel. Von einem Würfel, bei dem alle Flächen mit unterschiedlichen Motiven versehen sind, sieht man drei Seiten. Jetzt gilt es, aus sechs Würfeln denjenigen zu finden, der mit dem ersten identisch sein kann. Man muss den ersten Würfel im Kopf drehen und wenden und Bezüge zwischen den Seitenmotiven herstellen. Das ist knifflig, aber nach der dritten Aufgabe gerate ich in Schwung und komme über, nunja, intelligente Strategien schnell auf den richtigen Würfel. Nach 90 Minuten ist alles vorbei und die Zeit verging wie im Flug. In zwei Wochen kommt das Ergebnis per Post. Ich glaube nicht, dass es für Mensa reicht. Ich werde mein Leben nicht ändern.

[Der Artikel ist am 17. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

P.S.: Inzwischen habe ich das Ergebnis erhalten: IQ 119…

Rauchende Köpfe beim Intelligenztest

Die Heimat findet im Kopf statt

Unter dem Motto „Heimat ist Menschenrecht“ lud der Bund der Vertriebenen in die Liederhalle ein.

Der diesjährige Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen fand gestern in der Liederhalle statt. Rund 1.000 Teilnehmer verfolgten einen ruhigen Nachmittag zwischen Brauchtumspflege, Politik und Wiedersehensfeier.

„Die Volkstanzgruppe der Ost- und Westpreußen aus Metzingen zeigt nun Tänze aus der Heimat,“ kündigt der Moderator die in bunter Tracht die fahnengeschmückte Bühne des Hegelsaals der Liederhalle betretenden Tanzpaare an. Diese dürften allerdings trotz des zumeist fortgeschrittenen Alters die ehemaligen Siedlungsgebiete ihrer Vorfahren nur vom Hörensagen kennen.

Dass 60 Jahre nach den Vertreibungen der Deutschen das Wort andere Bedeutungen erhalten muss, macht denn auch Rainer Wieland, Europaabgeordneter für die CDU, den rund 1.000 Zuhörern unmissverständlich klar. „Heimat kann man nicht vererben, das ist kein geographischer Begriff,“ sagt Wieland, der als „unser Mann in Brüssel“ von Albert Reich, dem langjährigen Kreis-Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen als Veranstalter begrüßt wird. Mit dem Beitritt der osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union hat die tragische Vergangenheit eine anderen Stellenwert bekommen. Die Geschichte mahlt alles klein, die Zukunft hat begonnen. Das eigene Schicksal transzendiert zu einem globalen Beitrag in der Gemeinschaft von Völkern, die eine traumatische Erfahrung teilen, nämlich den erzwungenen Verlust ihrer geographischen oder geistigen Heimat. „Heimat ist ein Menschenrecht für Alle,“ sagt Wieland in seiner Festansprache und es ist für ihn daher nur logisch, dass seine Partei das umstrittene Zentrum für Vertreibung unterstützen wird. 100.000 Euro habe Ministerpräsident Oettinger für dieses Projekt schon bereitgestellt.

Der Wandel vom ungeliebten Verband der Verbitterten hin zu angesehenen Experten des internationalen Völkerrechts scheint eine der Optionen zu sein, mit dem die in die Jahre gekommenen Vertriebenen-Funktionäre zukunftsfähig werden wollen. Wie das dann aussehen könnte, wird greifbar, als eine assyrische Volkstanzgruppe die Bühne betritt. Dieses christliche Volk lebte ursprünglich zwischen Euphrat und Tigris und wurde durch die Verfolgungen von Türken, Irakern, Iranern und Syrern im Laufe des 20. Jahrhunderts in die ganze Welt verstreut – auch nach Augsburg. Von dort kommen die jungen, recht attraktiven und breites Oberschwäbisch parlierenden Tänzer und Tänzerinnen und bewegen sich zwar unspektakulär zu orientalisch anmutender Musik in einer Art Reihentanz, aber die Zuschauer klatschen freundlich mit. „Wir müssen in Europa die Vielfalt der Kulturen bewahren,“ sagt Wieland später. Dazu könnten die Vertriebenenverbände, bei denen sich auch Spätaussiedler organisieren, wie polnische oder russische Gesprächsfetzen unschwer erkennen ließen, einen durchaus wertvollen Beitrag leisten.

[Der Artikel ist am 17. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Die Heimat findet im Kopf statt

Teufel lobt Reuter: Begegnung statt Autobiographie

Im Rahmen einer öffentlichen Buchpräsentation in der BW Bank stellte gestern Abend der ehemalige Ministerpräsident Erwin Teufel das neue Buch von Edzard Reuter vor. Teufel war des Lobes voll und findet den Band „bemerkenswert“.

In Anwesenheit von 300 Zuhörern wurde gestern Abend in der BW Bank am Kleinen Schlossplatz das neue Buch von Edzard Reuter vorgestellt. Erst in der Nacht zuvor waren die fertigen Bände an den Verlag ausgeliefert worden, sodass der Autor selbst erst an Ort und Stelle die Gelegenheit hatte, sein neuestes Werk in der endgültigen Fassung zu begutachten. „Es ist also eine echte Premiere für alle,“ sagte Ulrich Frank-Planitz, Herausgeber und Leiter des Hohenheim Verlags.

Diese fand wegen des großen Andrangs, wie Claudia Diem, Vorstandsmitglied der BW-Bank, als Hausherrin mitteilte, in der zentralen Schalterhalle statt. Das Forum im siebten Stock wäre viel zu klein gewesen. Unter den meist älteren Zuhörern fand sich ein Querschnitt durch die Stuttgarter Gesellschaft, darunter der SPD-Vordenker Peter Conradi, der Historiker Eberhard Jaeckel, Ex-SWR-Intendant Peter Voß und Alt-OB Manfred Rommel. Prominentester Gast war der ehemalige Ministerpräsident Erwin Teufel, der vom Verlag als Hauptredner gewonnen werden konnte.

Teufel scheint die Lektüre, die ihm in Form eines Manuskriptes vorab ermöglicht worden war, gefallen zu haben. Besonders die menschliche Note, Reuter schildert in 14 Kapiteln Begegnungen mit für sein Leben wichtigen Personen, haben ihn beeindruckt. Denn nicht das Autobiographische sei der Kern des Buches, sondern die Geschichte anderer Menschen, die mit „starker Beobachtungsgabe, Urteilskraft und Erinnerungsvermögen“ geschildert werden, so Teufel. Deshalb sei dieses Buch auf eine besondere Art geeignet, mehr über den Menschen Edzard Reuter zu erfahren.

Teufel enthielt sich jeder Anspielung auf tagesaktuelle Diskussionen und findet in dem Buch vor allem wichtige Werte: langfristiges Denken, glaubhafte Führung, unternehmerische Verantwortung. Edzard Reuter war angesichts dieser Laudatio erstmal „baff“. Umso ausdrücklicher bedankte er sich bei dem Vorredner. Trotz unterschiedlicher Einschätzungen in manchen konkreten Fragen, haben seine Frau und er, wie er betonte, sich stets mit Teufel verbunden gefühlt, vor allem am Ende dessen Amtszeit. Indirekt deutet er an dieser Stelle gemeinsame, nicht so angenehme Erfahrungen an und es wird still im Saal.

Mit einem kleinen Bonmot von Oscar Wilde hebt Reuter aber gleich wieder die Stimmung: „Gesegnet seien die, die nichts zu sagen haben und trotzdem den Mund halten.“ Reuter hat etwas zu sagen, da sind sich alle Anwesenden einig, und so bildet sich am Schluss der Veranstaltung eine kleine Schlange, denn nicht wenige möchten eine persönliche Widmung beider Herren im frisch erstandenen Band nach Hause nehmen.

[Der Artikel ist am 15. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Teufel lobt Reuter: Begegnung statt Autobiographie

650 Jahre Industriegeschichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht

Katalog des Firmenarchivs des ältesten deutschen Industriebetriebs übergeben

Im Schloss Hohenheim wurden gestern 15 Findbücher an die Schwäbischen Hüttenwerke (SHW) übergeben, Ergebnis von sechs Jahren Arbeit im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg. Damit ist das umfangreiche Firmenarchiv des ältesten noch existierenden Industriebetriebs in Deutschland zugänglich.

Manchmal winkt selbst in heutigen Zeiten, in denen weiße Flecken auf der historischen Landkarte eher unwahrscheinlich sind, echtes Forscherglück. „Die Hüttenwerke hatten alte Unterlagen wegen einer Renovierung ausgelagert, in einen Container nur 150 Meter neben der Donau. Wir haben deren Wert sofort erkannt, mein Auto bis unters Dach vollgeladen und die Sachen nach Stuttgart transportiert,“ erzählt Dr. Uwe Fliegauf und schwärmt von der Qualität des Materials, das er für seine Dissertation zur Geschichte der Schwäbischen Hüttenwerke (SHW) ausgewertet hat.

Die Papiere waren ein Teil des verstreuten und ungeordneten Archivs des ältesten noch existierenden Industriebetriebs in Deutschland, das heute unter dem Namen SHW Automotive in vier Werken mit 1.000 Mitarbeitern in Aalen-Wasseralfingen, Tuttlingen und Bad Schussenried Hydraulikpumpen und Bremsscheiben für die Automobilindustrie produziert. Vor fast 650 Jahren wurde die Hütte zum ersten mal urkundlich erwähnt, war jahrhundertelang der Kern der metallproduzierenden und -verarbeitenden Industrie in Württemberg und bis 1921 in Staatsbesitz. Vielleicht war letzteres der Grund, warum in diesem Fall ein so umfangreiches Unternehmensarchiv entstehen konnte. Man fühlte sich irgendwie staatlichen Dokumentationsprinzipien verpflichtet. Gleichwohl waren die Bestände zuletzt verstreut und nicht sachgerecht untergebracht.

Das hat sich nun gründlich geändert, denn der komplette Bestand ist jetzt Teil des Wirtschaftsarchivs Baden-Württemberg, das von einer Stiftung der IHK und der Landesregierung getragen wird. Dort werden Originalquellen zur Wirtschaftsgeschichte Landes gesammelt und konserviert. Kern sind Dutzende Archive hiesiger Unternehmen, darunter so bekannte Namen wie Salamander, Kreidler oder WMF, die diese seit 1980 abgegeben haben. Die Unternehmen, soweit sie noch existieren, bleiben Besitzer der Materialien, müssen aber auch nichts für die Aufbewahrung bezahlen. Denn die Urkunden, Werbematerialien, Rechnungsbücher, Fotos oder Konstruktionspläne werden im Archiv erschlossen und professionell gesichert, was in den Unternehmen nicht immer gewährleistet ist, wie auch bei SHW. In einer alten Villa und in Kellern lagerten die wertvollen Unterlagen. „Die Übernahme dieses wegen der langen, kontinuierlichen Geschichte so reichhaltigen Archivs ist ein echter Glücksfall für die Forschung,“ sagt Professor Gert Kollmer-von Oheimb-Loup, Sozial- und Wirtschaftshistoriker von der Universität Hohenheim.

Die gestern an das Unternehmen überreichten 15 voluminösen Findbücher, in denen das 300 Regalmeter umfassende SHW-Archiv katalogisiert wurde, zeigen anschaulich, welcher Schatz der deutschen Wirtschafts-, Sozial- und auch Kulturgeschichte der Öffentlichkeit jetzt zugänglich gemacht wurde. Mit Unterstützung der Stiftung Kulturgut, der Gesellschaft für Wirtschaftsgeschichte und von SHW selbst konnten drei Wissenschaftler sechs Jahre lang finanziert werden, die das aus 10.000 Einträgen und 3.000 Fotos bestehende Material sichteten. Vom 30jährigen Krieg bis in die Gegenwart stehen jetzt die Unterlagen des jahrhundertelang wichtigsten Eisenwerks in Süddeutschland der Forschung zur Verfügung. Die auf diesem Material beruhende Dissertation von Uwe Fliegauf behandelt die Epoche von 1803 bis 1945. Fliegauf hat vor allem die Frage interessiert, ob ein staatliches Unternehmen besser oder schlechter wirtschaftet als ein privates. Seine Analyse der so außergewöhnlich detailliert vorliegenden Quellen „Die zurzeit mal wieder herrschenden Vorurteile gegenüber staatlichen Unternehmen bezüglich mangelnder Flexibilität oder fehlender Rendite kann ich zumindest für diesen Zeitraum und für die Schwäbischen Hüttenwerke nicht bestätigen. Die haben dem Staat so richtig gut Geld gebracht und immer wieder den Strukturwandel aktiv mitgestaltet.“

Wer selbst historische Reste dieses Unternehmens studieren möchte, muss nicht unbedingt nach Hohenheim fahren. Der Musikpavillon auf dem Schlossplatz und die historischen Stahl-Glas-Konstruktionen mit den maurischen Kapitellen in der Wilhelma stammen von SHW. In ganz Baden-Württemberg finden sich solche Relikte und schon jetzt kommen Anfragen an das Wirtschaftsarchiv, um alte Konstruktionszeichnungen einzusehen und nach diesen Rekonstruktionen auszuführen. „Das ist eben die Leistung dieses Archivs: Die Unterlagen werden zugänglich und verkommen nicht in irgendwelchen Kellerräumen der Unternehmen,“ sagt Professor Kollmer-von Oheimb-Loup.

[Der Artikel ist am 13. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

650 Jahre Industriegeschichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht