Weihnachtsmann & Co übergibt Spendenschecks

40.000 Euro, die bei einer Benefiz-Gourmet-Gala gespendet wurden, gingen an drei sozial tätige Initiativen

Im Maritim überreichte gestern der Verein Weihnachtsmann & Co Schecks an drei Initiativen, die sozial bedrängten Kindern helfen. Das Geld war auf einer Benefiz-Gourmet-Gala gesammelt worden.

Drei im besten Doppelsinn des Wortes große Schecks wechselten gestern Mittag in der Reithalle des Hotels Maritim ihren Besitzer. Zum einen hatten die von Thomas Zell, dem Vorsitzenden des Vereins Weihnachtsmann & Co, überreichten Schecks fast Plakatgröße. Zum anderen waren in die symbolischen Formulare fünfstelligen Geldsummen eingetragen. Insgesamt wurden 40.000 Euro an drei Initiativen verteilt. Das Geld war vom Verein, der auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt den beliebten Prominenten-Stand betreibt, anlässlich einer Benefiz-Gourmet-Gala im Maritim bei den 300 anwesenden Gästen gesammelt worden. Diese hatten sich an Köstlichkeiten von Stuttgarter Sterneköchen wie Martin Öxle, Franz Feckl oder Laurent Durst erfreut und ihre Geldbörsen weit geöffnet.

Diese Veranstaltung verbucht der Verein als Erfolg und konnte daher drei Initiativen auswählen, die sich vor allem um Kinder kümmern. Je 15.000 Euro erhielten das Kinderschutz-Zentrum und die Aktion Mahlzeit, die sich um das wachsende Problem von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen bemüht. 10.000 Euro fließen in ein Projekt des Schauspielhauses, bei dem in sozial problematischen Brennpunktschulen längerfristige Theaterprojekte durchgeführt werden. Mit dem Geld wird die Stelle für einen Theaterpädagogen mitfinanziert, der mit den Schülern Aufführungen erarbeitet.

Auch bei den anderen Initiativen gehen die Spenden in den Unterhalt von Mitarbeitern, allerdings zweckgebunden. „Wir werden das Geld für ein therapeutisches Angebot verwenden, das sich an Kinder richtet, die Zeuge oder Opfer häuslicher Gewalt geworden sind,“ sagt Kristin Kreimer-Philippi, Geschäftsführerin des Kinderschutz-Zentrums in der Pfarrstraße. Gerade für solche Kinder sei es sehr wichtig, dass ihnen endlich mal jemand zuhört und zwar nur ihnen. Über den Erfolg der Gala freut sich auch Andreas Schwend, Geschäftsführer der Internetagentur dmc. Diese hatte die Veranstaltung operativ und mit Spenden unterstützt. Für ihn ist als Unternehmer soziales Engagement selbstverständlich. Allerdings unterstützt man lieber Projekte vor Ort, als es mit einer Spendenzahlung an weltweit tätige jedoch anonymen Organisationen bewenden zu lassen.

Die gelungene Veranstaltung spornt den Verein Weihnachtsmann & Co weiter an, neben dem Weihnachtsstand weitere Sammelaktionen zu organisieren, wie Thomas Zell berichten konnte. Im Frühjahr wird es eine Versteigerung geben, deren Erlös komplett dem Vereinszweck zugute kommt. Seine Gebote wird man für die originalen Karikaturen abgeben können, die bei der Stadt anlässlich eines Wettbewerbs zum Thema Automobil eingereicht wurden. Als Auktionator ist eine prominente Persönlichkeit vorgesehen, dessen Name aber noch geheim gehalten werden muss. „Derjenige weiß noch nichts von seinem Glück. Wäre nicht so gut, wenn er das aus der Zeitung erfährt,“ sagte Zell mit einem Lächeln.

[Der Artikel ist am 28. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Weihnachtsmann & Co übergibt Spendenschecks

Mit Technobeats beginnt das JungesellInnenleben

228 Auszubildende wurden Dienstag Abend in einer Feierstunde der Kreishandwerkerschaft in das Gesellenleben entlassen. Bei der modernen Feier im Atrium des SpOrt wurden auch die 30 Besten des Jahrgangs ausgezeichnet.

Wummernde Technobeats hallen durch das Atrium des SpOrt und liefern den Ton zu einem Imagefilm, der über den Köpfen der etwa 400 Zuschauer auf großen Leinwänden läuft. In dem flott geschnittenen Videoclip werden Szenen aus dem Arbeitsalltag der frisch geprüften Auszubildenden in Stuttgarter Handwerksbetrieben gezeigt und ein Mann zum Megafon, schreit „Los!“ und ein Schuss knallt aus einer Startpistole. Schreckhafte Zuschauer mögen zusammengezuckt sein angesichts dieses akustischen Feuerwerks, aber den meisten der 228 Junggesellinnen und -gesellen, wie Kreishandwerksmeister Alexander Kotz sie in seiner Ansprache nennt, wird es gefallen haben, diese zeitgemäße Ausschmückung der Lossprechung 2007.

Mit dieser traditionellen Feier werden die ehemaligen Lehrlinge symbolisch von ihren Pflichten gegenüber den Lehrherren entbunden. Heute nutzt die versammelte Handwerkerschaft den Rahmen, um ein bisschen sich selbst und ganz viel die neuen Fachkräfte zu feiern. Vor allem aber um 30 junge Leute zu ehren, die in den verschiedenen Gewerken mit Bestleistungen aufwarten konnten. Goldglänzende Medaillen am schwarz-gelben Bändel werden ihnen umgehängt und Urkunden überreicht von den Obermeistern der Bäcker, Maurer, Glaser, Steinmetze und KFZ-Handwerker, um nur einige der 19 vertretenen Innungen zu nennen. Eine der beiden ausgezeichneten weiblichen Gesellen ist Nuriye Genc. Vor allem wegen ihrer praktischen Fertigkeiten ist die Muslima aus Renningen, die bei der Bäckerei Schrempf in Vaihingen gelernt hat, die beste Jungbäckerin 2007 geworden. „Die Auszeichnung wird mir bestimmt bei der Suche nach einer neuen Stelle nützen,“, sagt die recht zierlich wirkende 19 Jährige, die nach der mit Bravour abgelegten Prüfung nicht vom Ausbildungsbetrieb übernommen wurde.

„Das Berufsleben ist ein Wettkampf,“ sagt auch Andreas Kotz, der in seiner Begrüßungsrede gemäß dem Veranstaltungsort weitere Analogien zum Sport bemüht. Nach dem kräftigen Start in das Berufsleben wünscht er Durchhaltevermögen und erlaubt auf der „Liste der Doping-Präparate“ nur Eigenschaften wie Fleiß, Engagement oder Neugier. Kotz sieht positive Perspektiven und er macht Mut, denn die Wirtschaft ziehe an und der Standort biete besonders wegen Stuttgart 21 auch für das Handwerk Dynamik und sehr gute Chancen. So eingestimmt herrscht unter den jungen Leuten eine aufgeräumte Stimmung, als sie mit einem Glas Wein versammelt auf der Bühne von Kotz losgesprochen werden. „Gott segne ein ehrbar Handwerk,“ sagt er zum Schluss.

Dann können die Urkunden abgeholt werden und es schallen wieder elektronische Rhythmen durch das Gebäude, denn jetzt beginnt die Party mit DJ und Showact. Am Buffet gibt es Hot-Dogs und Lachs-Wraps für die teilweise mit Angehörigen erschienenen Ex-Lehrlinge. Den Startschuss ins neue Berufsleben KFZ-Mechatroniker ihres Sohnes Nils wollte sich auch das Ehepaar Dittkuhn aus Degerloch nicht entgehen lassen. Für Vater Olaf Dittkuhn ist es eine gelungene Feier. „Ein Segen gab es nur wenige Reden. Und es ist schon ein toller Moment, wenn der eigene Sohn die Berufsausbildung abschließt,“ sagt er. Sohn Nils will jetzt „erstmal richtig Geld verdienen“ und vielleicht später mal auf die Technikerschule. Es ist heute ein großer Schritt gewesen, aber eben nur ein erster in eine sich ständig wandelnde Berufswelt.

[Der Artikel ist am 27. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Mit Technobeats beginnt das JungesellInnenleben

Integratives Konzept unter einem Dach

30 behinderte und nichtbehinderte Kinder besuchen jetzt gemeinsam in Heslach die Grundschule

Gestern wurde in der Torwiesenschule in Heslach der Start des Regelschulzweigs gefeiert. Behinderte und nichtbehinderte Kinder gehen nun gemeinsam in die private, von der Diakonie Stetten getragene Grundschule in der Bachwiesenstraße.

Mit einem Gottesdienst und in Anwesenheit von Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann wurde gestern Nachmittag die Eröffnung des Regelschulzweigs der Torwiesenschule in Heslach gefeiert. In dem sanierten und umgebauten Hofgebäude in der Bachwiesenstraße wurde bereits Ende September 2006 der Sonderschulzweig in Betrieb genommen, vor zwei Wochen sind die ersten Grundschüler dazugekommen.

30 behinderte und nichtbehinderte Kinder werden damit unter einem Dach unterrichtet. „Unser integratives Konzept ist einmalig in Baden-Württemberg,“ sagt Walter Scheuber, der das von der evangelischen Diakonie Stetten getragene Projekt leitet. 800.000 Euro wurden investiert, um Klassen-, Sport – und Büroräume, Sanitäranlagen und einen Aufzug einzubauen, selbstverständlich alles barrierefrei. Hinter dem außen in dunklem Rot gehaltenen Gebäude wurde zu Füßen eines baumbestandenen Hangs ein Pausenhof und Spielflächen angelegt. Noch ist die Torwiesenschule, in der „vieles aber nicht alles gemeinsam geschieht,“ wie Scheuber sagt, nicht bei der vollen Kapazität angelangt. Zukünftig wird jedes Jahr eine neue Grundschulklasse hinzukommen, eine Haupt- und Realschule sind in Planung.

Die Kinder werden getrennt unterrichtet, verbringen allerdings die morgendliche Andacht in dem konfessionell geprägten Haus sowie die Pausen gemeinsam. Aber das Konzept ist auf Durchlässigkeit angelegt, wie die Schulleiterin Martina Heß betont. „Wir beginnen langsam und versuchen so individuell wie möglich den konkreten Fähigkeiten der Kinder gerecht zu werden,“ sagt sie. Für Heß besteht ein weiterer Pluspunkt des Konzeptes in dem täglichen, interdisziplinären Austausch unter den Mitarbeiterinnen. Grundschullehrer, Sonderschul- und Heilpädagogen sowie Physiotherapeuten würden eine Synergie der Kompetenzen schaffen. „Das kommt letztendlich den Kindern zugute“.

Direkte Konsequenz des innovativen Konzeptes sind eine geringe Klassenstärke mit höchstens 15 Kindern. Dieser Umstand war für Ute Mauz ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung, ihren Sohn hier einzuschulen. Die Heslacherin muss den Kleinen zwar mit dem Auto herbringen, aber das nimmt sie in Kauf. Das integrative Konzept findet sie gut, jedoch war das eher ein zweitrangiger Faktor. „Hier ist es nicht so staatlich streng,“ sagt sie mit einem Lächeln. Das Projekt hat Modellcharakter, belegt auch durch die Tatsache, dass es wissenschaftlich begleitet wird. Erziehungswissenschaftler der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg führen eine Langzeitbeobachtung durch, um Probleme und Ergebnisse der hier erprobten Unterrichtsformen zu dokumentieren.

[Der Artikel ist am 27. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Integratives Konzept unter einem Dach

Zweimal um die Erde mit einem Bein

Ein beinamputierter Radsportler aus Polen macht auf dem Weg nach Gibraltar Station in Stuttgart

Von Südpolen nach Gibraltar fährt Henryk Forto?ski mit dem Fahrrad in 23 Tagen, obwohl er nur einen Fuß hat. Den anderen verlor der Pole 1985 bei einem Arbeitsunfall im Bergwerk. Seitdem macht er mit Langstreckenfahrten von sich reden und am Samstag Station in Stuttgart.

Was für einen Schlag hat dieser Mann überlebt, der hier so aufgeräumt und gut gelaunt am Tisch sitzt. Henryk Forto?ski war Bergmann und stand am 14. Januar 1985 neben einem Förderband in einem Steinkohleschacht 900 Meter unter der Erde, als eine Antriebskette aus der Führung sprang, ihn am Fuß erwischte und mitriss. Der Fuß wurde am Ende des Bandes zerquetscht und war trotz mehrerer Operationen nicht zu retten.

Seitdem trägt Fortonski eine Prothese, die unterhalb des Knies beginnt und heute in einem professionellen Radsportschuh endet. Das Kunstglied kommt allerdings bei dem Polen schnell an die mechanische Belastungsgrenze, denn der Invalide, der von einer kleinen Rente lebt, haderte nur kurz mit seinem Schicksal. Angeregt durch einen Dokumentarfilm über einen us-amerikanischen Radsportler mit Handicap, widmete er seine ganze Energie nach dem Unfall dem Radsport. Mit Kleinigkeiten gab er sich dabei von Anfang an nicht zufrieden. „Ich wollte einfach immer besser werden,“ sagt er.

Inzwischen hat der 50-Jährige Herausforderungen gemeistert, die einem Freizeitsportler schon beim Zuhören den Schweiß auf die Stirn treiben. Zunächst umrundete er dreimal sein Heimatland. Mit der Öffnung der Grenzen 1990 ergaben sich neue Möglichkeiten. Bis zum Nordkap ist er gefahren, nach Athen zu den Paralympics, 1.000 Kilometer in 55 Stunden hat er hingelegt und ist bis in die Türkei vorgestoßen. „Insgesamt habe ich die Erde wahrscheinlich schon zweimal umrundet,“ sagt er und ist jetzt auf dem Weg nach Gibraltar.

Los ging es am 19. August vor dem Rathaus seiner Heimatstadt, dem niederschlesischen Walbrzych/Waldenburg. Der Oberbürgermeister hat ihn dort verabschiedet und der Regierungspräsident, denn Henryk Fortonski ist zuhause fast ein Star. Von 2002 bis 2007 wurde er jedes Jahr zum besten Sportler der Stadt gewählt. Die Gemeinde wie auch private Sponsoren unterstützen den kleinen Tross finanziell, denn Fortonski fährt nicht allein, sondern lässt sich von einem Radfahrer und von einem Fahrzeug begleiten. Die 3.600 Kilometer bis zur Südspitze der Iberischen Halbinsel will er in drei Wochen bewältigen. Am Samstag war man aus Nürnberg kommend auf Einladung der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft Baden-Württemberg in Stuttgart. Der Verein ist Teil des funktionierenden Netzwerkes der Auslandspolen, auf die sich die Dreimanntruppe unterwegs im Wesentlichen stützt. Neben der Überwindung seines eigenen Schicksals will Henryk Fortonski mit den sportlichen Höchstleistungen seinen Mitmenschen Mut machen. „Ich möchte anderen Behinderten die Hoffnung geben, dass jeder zu großen Leistungen fähig ist,“ sagt er. Das Schwabenland gefällt ihm im übrigen sehr. „Die ständige Berg- und Talfahrt macht mir viel Spaß. Außerdem sind die kleine Städte und Dörfer hier alle so liebevoll und ordentlich hergerichtet.“ So viel wie Forto?ski von Europa gesehen, kann man dieses Urteil wohl ernst nehmen.

[Der Artikel ist am 24. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Zweimal um die Erde mit einem Bein

Von der Notbedachung bis zur Eierkartonfassade

Das Viertel rund um den Hans-im-Glück-Brunnen war das Thema des zweiten Stadtspaziergangs

Der zweite Stadtspaziergang, den die Stiftung Geißstraße und die Stuttgarter Zeitung gemeinsam anbieten, führte am Samstag durch das Viertel rund um den Hans-im-Glück-Brunnen. Der langjährige städtische Denkmalpfleger Helmut Feeß erläuterte bei dem Rundgang die Geschichte des Viertels.

Die meisten der vielen Vergnügungssüchtigen, die durch die mit gastronomischen Angeboten jeglicher Art lockenden Straßen rund um den Hans-im-Glück-Brunnen streifen, ahnen wahrscheinlich nicht, dass sie sich in der ersten Flächensanierung der Stadt befinden. Hier ist kein Stein, keine Fensterlade, kein Erker älter als hundert Jahre, auch wenn es manchmal anders aussieht, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Block zwischen Eberhardt-, Nadler- und Steinstraße komplett neu bebaut worden. Die Geschichte dieses recht beschaulichen, verkehrsbefreiten Gebäudeensembles erzählte am Samstag Helmut Feeß den etwa 20 Teilnehmern am zweiten Stadtspaziergang, den die Stiftung Geißstraße zusammen mit der Stuttgarter Zeitung organisierte.

Die Führung beginnt mit einer aus zwei Gründen atemberaubenden Station, der Besteigung des der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglichen Turms des Graf-Eberhard-Baus. Feeß kennt sich hier mehr als gut aus, denn als städtischer Denkmalpfleger hat er in dem mächtigen Haus bis 2005 seinen Dienstsitz gehabt. Das erste Mal stockt der Atem, weil die Gruppe zu Fuß das Turmzimmer erklimmen muss, am Wochenende fährt der Fahrstuhl nicht. Die über 200 Stufen lassen so manchen Teilnehmer aus der Puste kommen. Das zweite Mal stockt der Atem, weil oben angekommen die Aussicht auf die verwinkelten Dächer des Viertels recht spektakulär ist. Wer aber geglaubt hat, hier direkt bis ins Mittelalter zu schauen, der irrt gewaltig.

Feeß erzählt die Geschichte von Eduard von Pfeiffer einem hoch angesehen wie wohlhabendem Bürger dieser Stadt. Pfeiffer hatte soziale Neigungen und widmete sich mit Bauprojekten seines Vereins zum Wohl der arbeitenden Klassen den widrigen Lebens- und Wohlverhältnisse der einfachen Leute in der engen Stadt. Mehrere Siedlungsprojekte hat er um die Jahrundertwende initiert und kaufte unter anderem die Grundstücke im Geißviertel. 1901 wurde die vorhandene niedrige Bebauung komplett abgerissen und neu bebaut – heller, luftiger und romantisch. 1909 war alles fertig und nur der Straßenverlauf erinnerte noch an das alte Viertel. „Alles rückwärtsgewandte Architektur. Es sollte heimelig werden,“ sagt Helmut Feeß und meint den Stilmix aus Renaissance, Baukunst süddeutscher Handelshäuser und Neoklassizismus. Das Viertel kam allerdings an, die Mischung aus Geschäften und Wohnungen funktionierte.

Zurück auf dem Boden der Geißstraße geht die Führung um die Ecke vor den Graf-Eberhard-Bau. Der war bis 1977 voll mit Büchern, denn der Barsortimenter Koch, Neff und Oettinger hatte hier seinen Stammsitz. Jetzt wird hinter den massiven Mauern die Stadt der Zukunft entworfen, denn seit über 20 Jahren gehört der Bau der Stadt und beherbergt das Stadtplanungsamt.

Weiter geht es die Eberhardstraße hoch bis zur Ecke Steinstraße. Feeß erzählt nun die Geschichte des Tagblatturms und die des Kaufhauses Schocken gegenüber. Letzteres gibt es seit 1960 nicht mehr, dort steht jetzt die Stein gewordene architektonische Fragwürdigkeit mit Namen Galeria Kaufhof, ein Umstand, der den Denkmalpfleger immer noch auf die Palme bringt. „Wir stehen hier vor einer der größten Bausünden der Stadt,“ sagt er. Das Schocken war ein Experiment des neuen Bauens, materialisierte den Bauhaustraum aus Glas, Metall und klaren Linien. Abgerissen wurde er, unter Protest der gesamten Architektenschaft der Stadt, weil die Straße davor drei Meter zu schmal war, um als Querspange innerhalb des Cityrings zu funktionieren. Die Folgen dieser Fehlentscheidung werden vor allem in der Steinstraße offensichtlich, bei dem der Blick hoch auf die Eierkartonfassade geht, die der Kaufhauskonzern bundesweit in die Städte geklotzt hat. „Das wird niemals in den Denkmalschutz kommen,“ sagt Feeß später fast verächtlich. Der Anblick läuft jedem halbwegs geschultem ästhetischem Empfinden zuwider.

Zuletzt biegt die Gruppe in die Nadlerstraße ein. Hier Feeß weist auf die städtebaulichen Narben hin, die die Bombenangriffe vor über 60 Jahren bis heute hinterlassen haben. „Dort an der Ecke sieht man noch die Notbedachung, die nach dem Krieg draufgesetzt wurde,“ sagt er. Auch sonst gibt es inzwischen an einigen Gebäuden erheblichen Sanierungsbedarf, aber weil die Stadt keinen Euro für die finanzielle Unterstützung mehr bereitstelle, werde sich hier auch weiter nichts tun, so Feeß. Die Führung endet am original erhaltenen Hans-im-Glück-Brunnen mit dem Gefühl, dass der Schutz der historischen Bausubstanz in Stuttgart keine Aufgabe ist, der man von Seiten der Stadtoberen besondere Priorität einräumt.

[Der Artikel ist am 24. September 2007 in der STUTTGARTER ZEITUNG erschienen]

Von der Notbedachung bis zur Eierkartonfassade